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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Ohne einen weiteren Kommentar legte er den Hörer auf.
    Sie war enttäuscht. Sie konnte und würde die Geschichte auch schreiben, ohne mit Reeve über alles geredet zu haben, aber jenseits ihrer journalistischen Tätigkeit hegte sie persönliches Interesse an dem Fall, und sie brannte darauf, mit dem Mann, der sie zuletzt gesehen und gesprochen hatte, über Elaine zu reden.
    Sie beschloss, ein langes, heißes Schaumbad zu nehmen. Die beiden unerfreulichen Telefonate unmittelbar hintereinander hatten sie frustriert. Wenn sie nicht den ganzen Abend über schlechte Laune haben wollte, musste sie nun etwas tun, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

Dienstag, 12. Februar
     
    1
     
    Sie verließ ihre Wohnung um halb elf, um hinüber zum Elephant zu gehen. Der gestrige Ruhetag hatte ihr geholfen, ihre Nerven zu beruhigen und sich von einem zitternden Wrack wieder in ein einigermaßen normales menschliches Wesen zurückzuverwandeln. Am Abend war es ihr sogar gelungen, zu einem kurzen Spaziergang durch das Dorf aufzubrechen. Sosehr sie die Gefahr, die draußen auf sie lauern mochte, fürchtete, so tief deprimierte sie nach drei Tagen auch die Enge und Hässlichkeit der Räume, in denen sie lebte. Man konnte nicht rund um die Uhr lesen oder fernsehen, nicht, wenn man eigentlich jung war, beweglich und erlebnishungrig. Manchmal fragte sie sich, wie lange sie dieses Leben, das eigentlich keines war, noch aushalten konnte. Oft kam ihr dann auch der Gedanke, dass sie das ganze Versteckspiel ohnehin umsonst betrieb, dass kein Mensch mehr auf der Suche nach ihr war. Die Vorstellung war verlockend, zugleich verstärkte sie ihre Depressionen, weil sie die Phobie, die ihr Handeln und Leiden bestimmte, auch noch unter das Vorzeichen völliger Sinnlosigkeit stellte. Und ihr klar machte, dass sie, ganz gleich, welche Entscheidung sie traf – weitermachen oder aus dem Untergrund auftauchen –, nicht wissen konnte, ob sie einen fatalen Fehler beging. Dass sie deshalb weder der Depressionen noch der Ängste jemals würde Herr werden können. Als sie am Vorabend durch das Dorf gegangen war und die Luft geatmet hatte, die zum ersten Mal so etwas wie eine Ahnung von Frühling in sich trug, hatte sie plötzlich mit den Tränen kämpfen müssen. Ihre Sehnsüchte, die sie zumeist recht gut kontrollierte, brachen sich Bahn und überschwemmten sie förmlich mit Traurigkeit und Verzweiflung. Liebe, Wärme, Leben. Ein Mann, Kinder, Freunde. Frieden und Sicherheit. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen musste, dem Frühling mit Freude und Erwartung entgegenzublicken, anstatt ihn zu fürchten, weil seine Buntheit und Fröhlichkeit die Dunkelheit des eigenen Daseins noch schärfer betonte.
    Sie war nach Hause geflüchtet, ehe sie noch jemandem begegnete, der sich über die weinende Frau wundern konnte. Der Grundsatz, um keinen Preis jemals aufzufallen, war ihr so tief in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie ihn automatisch selbst dann befolgte, wenn ihre eigentlichen Gedanken in völlig andere Richtungen gingen.
    Heute wenigstens konnte sie sich wieder ein wenig am Alltag festhalten. The Elephant öffnete bereits mittags, sie musste rechtzeitig da sein, und wenn sie sich auch und gerade dort ihrer Nervosität besonders heftig ausgesetzt sah, erschien der Pub ihr im Moment als rettender Hafen im Meer ihres Schmerzes.
    Als sie die Wohnungstür öffnete, prallte sie fast gegen Mr. Cadwick, der lautlos davorgestanden und offensichtlich nach drinnen gelauscht hatte.
    Sie stieß einen leisen Schreckenslaut aus, aber auch Mr. Cadwick machte einen erschrockenen Schritt zurück.
    »Oh!«, sagte er.
    Wahrscheinlich, dachte sie, steht er wirklich öfter davor, als ich denke.
    Für gewöhnlich warnte ihn das Wegschieben der Kommode, aber heute hatte sie sich in aller Frühe etwas Brot und Butter kaufen müssen, da sie absolut nichts Essbares mehr im Haus hatte, und sie hatte sich nach ihrer Rückkehr nicht erneut verbarrikadiert. Ein winzig kleiner Übungsschritt in Richtung Normalität.
    »Mr. Cadwick«, sagte sie und registrierte, dass ihr Herz bereits wieder raste, »was tun Sie denn hier?«
    »Ich stehe hier«, sagte er, »es ist mein Haus, und deshalb stehe ich hier!«
    Die Tatsache, dass er ertappt worden war, schien ihn aggressiv zu machen. Er wusste, dass er lächerlich wirkte, wie er sich da in der Dunkelheit des alten Treppenhauses herumtrieb. Sie starrte auf seine Füße. Er war in Strümpfen, in grauen, ziemlich dreckigen Wollsocken.

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