Die Letzte Spur
tat.
Cedric trug eine dunkelbraune Lederjacke, die vor Nässe glänzte, und auch seine Haare waren tropfnass. Er schüttelte sich ein wenig, wie ein Hund. »O Gott, was für ein beschissenes Wetter! Ich bin auf dem Weg von der U-Bahn hierher total durchweicht! Hast du mal ein Handtuch für mich?«
»Im Bad«, sagte Rosanna. Ihr Bruder verschwand, dicke nasse Fußspuren auf dem hellgrauen Teppichboden und den weißen Fliesen hinterlassend.
Er hätte ja auch erst mal zu sich hinübergehen können, dachte sie verärgert.
Cedric kam zurück, ein riesiges weißes Badetuch in den Händen, mit dem er sich das nasse Gesicht abtrocknete und dann die Haare rubbelte. Typisch, dachte Rosanna, dass er ihr großes flauschiges Badetuch genommen hatte. Mit einem der kleineren Handtücher begnügte er sich natürlich nicht.
»Wo warst du?«, fragte sie.
»Eine Kommilitonin von früher besuchen. Du kennst sie nicht.« Er ließ das Badetuch auf ihr Bett fallen. Sie betrachtete ihn, mit seinen verstrubbelten Haaren, der lässigen Kleidung. Obwohl er ihr Bruder war, konnte sie die Anziehungskraft nachvollziehen, die er auf Frauen ausübte, es schien ihr kein Wunder, dass er jede bekam, und wenn er nur mit den Fingern schnippte. Unglücklicherweise schnippte er allerdings immer bei den Falschen.
Sie rieb sich kurz mit den Fingern über beide Schläfen.
»Kopfweh?«, fragte Cedric.
»Nein. Es ist nur … ich habe gerade mit Dennis telefoniert. Ihm gesagt, dass ich den Auftrag annehme und erst mal hierbleibe. Es war … ein unerfreuliches Gespräch.« Sie biss sich auf die Lippen. Eigentlich hatte sie Cedrics Abneigung gegen Dennis keine neue Nahrung geben wollen, aber sie war so getroffen von der eben geführten Unterhaltung, dass sie ihren Kummer bei irgendjemandem loswerden musste. Genau genommen konnte man es gar nicht als Unterhaltung bezeichnen, was zwischen ihnen beiden abgelaufen war. Sie hatte geredet, erklärt, argumentiert, sich praktisch ununterbrochen gerechtfertigt, während er eisig und verbissen geschwiegen hatte. Am Ende hatte er nur gesagt: »Du musst wissen, was du tust. Wenn du dich wochenlang von deiner Familie trennen willst – bitte, ich kann es dir nicht verbieten. Die Konsequenzen interessieren dich vermutlich ohnehin nicht.«
»Welche erschütternden Konsequenzen kann es denn geben? Wenn ich zwei Wochen in England bin und …«
»Es ist alles gesagt«, hatte er sie unterbrochen und dann einfach den Hörer aufgelegt.
»Wenn du mich fragst«, sagte Cedric nun, »hat der gute Dennis ein Kontrollproblem. Das ist mir von Anfang an bei ihm aufgefallen. Keine Ahnung, woher das kommt, vielleicht hängt es mit irgendeiner Verlustangst zusammen, aber er scheint nur ruhig atmen zu können, wenn er dich im Griff hat. Dein Aufenthalt in England, dein Kontakt mit deinem früheren Beruf, mit Menschen, die er nicht kennt – ich vermute, das alles ängstigt ihn zutiefst.«
Sie war verblüfft. »Ausgerechnet du hast Verständnis für Dennis?«
»Verständnis eigentlich nicht. Ich habe nur überlegt, woher sein seltsames Verhalten rühren kann. Ich mag ihn nicht, das weißt du. Ich habe nie begriffen, weshalb du …«
»Ich weiß«, sagte sie rasch. Sie wollte das Gespräch unterbrechen, ehe es in die unvermeidliche Spirale geriet: Cedrics vernichtende Analysen von Dennis' Fehlern und Mängeln, an denen Rosanna jedes Mal voller Schrecken viel Wahres erkannte. Und ihre heftigen Verteidigungsreden, bei denen sie stets das bedrückende Gefühl hatte, vor allem sich selbst überzeugen zu müssen.
»Cedric, ich muss jetzt noch ein wichtiges Gespräch führen«, fuhr sie fort und beendete damit abrupt das Thema um ihren komplizierten Ehemann, »ich will Marc Reeve anrufen und um einen Termin bitten, und ich fürchte, auch das wird nicht ganz einfach werden.«
»Er wird nicht begeistert sein, wenn die ganze Geschichte schon wieder aufgewärmt wird«, meinte Cedric. »In seinem Interesse kann es nur sein, wenn sich mehr und mehr der Schleier des Vergessens über all das legt.«
»Sehr poetisch formuliert. Und nun bitte …« Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür hin. »Du weißt, im Unterschied zu dir bin ich hier, um zu arbeiten.«
»Schon kapiert«, sagte Cedric.
Sie hatte plötzlich den Eindruck, zu schroff gewesen zu sein. »He, Cedric«, sagte sie leise, »ich bin froh, mal wieder eine Weile mit dir zusammen zu sein. Es ist so lange her …«
»Geht mir auch so.« Er öffnete die Tür. »Willst du heute Abend mit
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