Die Letzte Spur
einige Kollegen von früher erkannt und freudig begrüßt. Die Atmosphäre um sie herum vibrierte von Lebendigkeit, von Hektik und Aufregung. Berufstätige Menschen, die rasch etwas aßen, sich dabei austauschten und dann weiterhasteten zu all dem, was sie noch an diesem Tag erwartete.
Früher war das ihre Welt gewesen, ihr Alltag. Normalität. Jetzt erst ging ihr auf, wie sehr sie dieses Leben vermisste. Wie eingesperrt und gelangweilt sie sich fühlte. Sah man ihr die Frustration an, wie Cedric behauptet hatte? Nick hatte davon nichts gesagt. Er hatte ihr allerdings auch keine Komplimente gemacht, wie früher so oft.
Plötzlich fragte sie sich in leiser Panik, ob es sich wirklich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Welches es?, war zwangsläufig die nächste Frage. Stand es für eine unglückliche Lebenssituation? Für eine unglückliche Ehe? Für Dinge, die nicht so liefen, wie sie sollten?
Nicht der Moment, darüber nachzudenken, entschied sie. Später, nicht jetzt.
Sie konzentrierte sich auf Nick, auf das Gespräch. Sie würde den Auftrag annehmen, und sie würde versuchen, eine Glanzleistung zu vollbringen.
»Marc Reeve«, wiederholte sie, »der letzte Mann, der Elaine gesehen und mit ihr gesprochen hat. Wie hat man ihn damals eigentlich ausfindig gemacht? Hatte er sich nicht sogar selbst gemeldet?«
An die genauen Abläufe in jenen Wochen nach ihrer Hochzeit konnte sie sich tatsächlich nicht mehr genau erinnern, was auch damit zusammenhing, dass sie ja bereits in Gibraltar gelebt hatte und damit weitab von den Geschehnissen gewesen war. Was in der Presse zu dem Fall erschienen war, hatte ihr ihre Mutter am Telefon berichtet. Sie wusste, dass die Polizei damals einen Mann im Zusammenhang mit Elaines Verschwinden vernommen hatte, dass ihm jedoch nichts Ungesetzliches hatte nachgewiesen werden können. Genaueres hatte sie nicht mitbekommen.
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Nick, »ging damals ein Hinweis aus seiner Nachbarschaft ein, aber fast gleichzeitig hat er sich auch selber gemeldet. Ich habe die Zeitungskopien aus unserem Archiv für dich mitgebracht, so dass du alles noch einmal nachlesen kannst. Elaines Bild war im Daily Mirror erschienen, und es gab sofort etliche Anrufe aus der Bevölkerung, wie das in solchen Fällen wohl immer üblich ist. Einer hatte sie in Schottland gesehen, der andere gleichzeitig in Land's End, und der dritte schwor, sie sei eine Woche zuvor auf dem Straßenstrich in Paris herumgestöckelt. Anrufe dieser Art, verstehst du? Aber zwei kristallisierten sich als sowohl wahrscheinlich als auch übereinstimmend heraus: der eines Nachbarn von Marc Reeve und der von Marc Reeve selbst. Der Nachbar hatte Elaine an jenem nebligen Abend gemeinsam mit Reeve in dessen Haus verschwinden sehen. Und Reeve selbst bestätigte das. Er ist in Heathrow irgendwie mit ihr zusammengetroffen und hat ihr für die Nacht sein Gästezimmer angeboten. An den Flughäfen ging ja nichts mehr, Tausende von Reisenden saßen fest, Hotelzimmer waren kaum mehr zu bekommen, man richtete sich auf Übernachtungen in den Wartehallen ein. Kein Wunder vielleicht, dass Elaine das Angebot annahm. Reeve schwor, dass er sie am nächsten Morgen in aller Frühe zur U-Bahn-Station Sloane Square begleitet hat, von wo aus sie erneut nach Heathrow fahren wollte, um noch irgendwie nach Gibraltar zu kommen. Es gibt keine Zeugen, die die beiden auf dem Weg zur U-Bahn gesehen haben, aber das ist nicht weiter verwunderlich, denn es war noch dunkel und zudem neblig. Und man konnte Reeve nicht nachweisen, dass es nicht so gewesen war. Am Ende führte diese Spur ins … Nichts.«
»Und doch ist es eine Spur«, sagte Rosanna, »die letzte. Weshalb ist Geoffrey Dawson so felsenfest überzeugt, dass Marc Reeve seine Schwester ermordet hat? Gab es noch irgendwelche Anhaltspunkte?«
Nick schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es sei denn, man würde argumentieren, dass sich Reeve höchst verdächtig gemacht hat, als er eine ihm wildfremde junge Frau einlud, die Nacht bei ihm zu verbringen. Andererseits hat er es vielleicht wirklich nur nett und ohne jeden Hintergedanken gemeint. In den Zeitungen wurde über ihn berichtet. Danach kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er ein Mörder, Vergewaltiger oder sonst etwas in dieser Art sein soll. Er war damals ein sehr angesehener Anwalt auf dem Sprung in die große Karriere in einer der renommiertesten Kanzleien Londons. Geld, Erfolg. Ein gut aussehender Mann. Der Typ, der es absolut
Weitere Kostenlose Bücher