Die Letzte Spur
vermutlich das Highlight in seinem Leben gewesen. Wahrscheinlich konnte er es seinerseits kaum fassen, dass er sich nach all den Jahren noch einmal äußern durfte.
Es war nicht allzu schwer gewesen, ihn ausfindig zu machen. In einer der Zeitungen aus dem Jahr 2003 hatte Rosanna einen Hinweis auf Reeves damalige Adresse gefunden: Belgravia, natürlich. Die Straße wurde nicht genannt, es hieß aber, es handele sich um eine »kleine Nebenstraße der King's Road, sehr nahe dem Sloane Square gelegen«. Das schränkte den Radius bereits erheblich ein. Eine andere Zeitung hatte ein Foto des Hauses abgedruckt. Es war Teil einer Kette von fünf Reihenhäusern, alte Klinkersteinbauten mit schönen Erkern und giebelverzierten Dächern. Gepflegte, winzige Vorgärten, Kopfsteinpflaster auf der schmalen Straße davor. Ein paar Bäume, deren kahle Zweige an dem Tag, an dem das Bild entstanden war, von dickem Schnee bedeckt waren. Überhaupt sah die Gegend wie ein weißes Zuckerbäckermärchen aus. Ruhig. Gediegen. Sehr teuer.
Der Nachbar war nirgendwo mit vollem Namen genannt, er geisterte lediglich als Richard H. (45) durch die Presse. Sollte er noch unter seiner einstigen Adresse leben, würde sie ihn finden.
Er hieß Richard Hall, war inzwischen fünfzig Jahre alt und lebte in dem Haus rechts von Reeves einstigem Domizil. Er hatte eine Frau und zwei Kinder und arbeitete im Büro einer Finanzagentur. Zum Mittagessen kam er stets nach Hause, daher konnte Rosanna mitten am Tag mit ihm sprechen. Sie bot ihm natürlich an, zu einem anderen Zeitpunkt wiederzukommen, um ihn nicht während der Mahlzeit zu stören, aber unter der Aussicht, die ganze Geschichte noch einmal erzählen zu dürfen und erneut in der Zeitung zu landen, vergaß Hall seinen Hunger und wies seine Frau, eine unscheinbare Blondine mit schüchternen Augen, an, das Essen wieder abzutragen.
»Du wärmst es mir dann heute Abend auf«, sagte er, und Mrs. Hall machte sich ohne irgendeinen Kommentar daran, den sorgfältig gedeckten Tisch im Esszimmer wieder abzudecken.
Da sie zudem den Kamin im Esszimmer bereits entfacht hatte, schlug Hall vor, das Gespräch dort zu führen, rückte zwei Stühle dicht ans Feuer und setzte sich seinem Gast gegenüber. Rosanna musterte ihn unauffällig, aber gründlich. Er war groß, hatte keine schlechte Figur und trug einen gut geschnittenen Anzug, aber sein Aussehen litt unter seinem vollkommen runden, farblosen Gesicht, in dem die Augen sehr klein waren und zu eng beieinander standen. Er wirkte wie ein unattraktiver Mann, der sich bemühte, das Beste aus seinem Typ zu machen, dabei jedoch nicht wirklich einen Erfolg zu erzielen vermochte. Rosanna meinte zu spüren, dass er unter Minderwertigkeitsgefühlen litt, aber sie versuchte, nicht zu viel in ihn hineinzuinterpretieren. Sein Wesen war für sie ohnehin nur insoweit interessant, als es ihr eine bessere Einschätzung, was den Wahrheitsgehalt seiner Angaben betraf, erlaubte. Sie ahnte, dass er zu Ausschmückungen neigte und dazu, Dinge, die er lediglich vermutete, als Tatsachen hinzustellen, aber wahrscheinlich war er kein Lügner.
»Ja«, sagte er, »ich habe die beiden an jenem Abend gesehen. Reeve und Miss Dawson. Sie kamen in Reeves Auto und gingen gemeinsam in sein Haus. Er trug ihren Koffer. Er selbst hatte nur eine Reisetasche dabei.«
»Woher wussten Sie, dass der Koffer Miss Dawson gehörte?«
»Er war rot, soweit ich das im Schein der Laternen erkennen konnte«, sagte Hall, der sich offenbar noch an jedes Detail erinnerte, »und er wirkte … billig. Aus Plastik. Nicht Reeves Stil.«
»Ich verstehe. Um wie viel Uhr kamen die beiden?«
»Gegen sieben Uhr. Ich stand vorn am Wohnzimmerfenster und hielt nach unserem Sohn Ausschau. Er war bei einem Freund gewesen und sollte um sieben daheim sein. Er war damals neun Jahre alt.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von Elaine Dawson? Wenn Sie überhaupt einen hatten auf die Entfernung und bei der Dunkelheit?«
»Wir haben hier sehr helle Straßenlaternen«, sagte Hall, »ich konnte alles gut sehen. Ich schaute auch ganz genau hin, weil ich irgendwie … irritiert war.«
»Irritiert?«
»Miss Dawson passte nicht in Reeves Beuteschema.«
»Sie meinen«, sagte Rosanna, »dass er für gewöhnlich einen anderen Typ Frau bevorzugte?«
»Nun«, sagte Hall genießerisch, und Rosanna stellte fest, dass er für einen Mann eine ungewöhnliche Vorliebe für Tratsch und Klatsch hatte, »es war ja so … also, etwa ein Dreivierteljahr
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