Die Letzte Spur
Genau wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Er zog seine Schuhe aus und schlich im Haus herum.
Sie erwiderte nichts. Ekelhafter Typ, dachte sie.
»Heute Nacht«, sagte er, »konnte ich nicht schlafen. Und da habe ich ziemlich viel nachgedacht. Über Sie.«
Sie erwiderte noch immer nichts.
Komm, du Wichser, dachte sie, sprich dich aus.
»Eigentlich kommen Sie mir ganz schön komisch vor«, fuhr Mr. Cadwick fort. Er wurde langsam selbstsicherer, nachdem er nun ganz zum Gegenangriff übergegangen war. »Von Anfang an war das so! Wie Sie leben, wie Sie sich benehmen … Ich meine, Sie sind doch eine hübsche, noch ziemlich junge Frau! Wieso leben Sie so komisch?«
Am liebsten hätte sie ihn einfach zur Seite geschoben und wortlos das Haus verlassen, aber sie wusste, dass das Thema damit nicht ausgestanden wäre. Irgendetwas wollte er loswerden. Er würde bei ihrer Rückkehr hier stehen und am nächsten Morgen wieder.
»Was meinen Sie denn mit komisch ?«, fragte sie zurück.
»Na ja … Sie kommen mir vor wie so ein Maulwurf. Immer im Dunkeln. Immer in der Wohnung. Keine Freunde. Kein … Mann. Gibt's denn gar keinen Mann in Ihrem Leben? Das ist doch nicht gesund!«
»Geht Sie das irgendetwas an?«
»Sie leben in meinem Haus!«
»Ich zahle Ihnen regelmäßig die Miete, ich mache nichts kaputt, belästige Sie nicht und halte mich an die Hausordnung. Darüber hinaus hat Sie nichts an mir zu interessieren!«
Er schlug einen anderen Ton an. »Nicht gleich so patzig! Nur weil ich's gut mit Ihnen meine? Ich mache mir Sorgen um Sie. Sie sehen gar nicht glücklich aus!«
Sie trat ganz aus ihrer Wohnung und zog die Tür hinter sich zu, schloss sie sehr nachdrücklich zweimal ab – obwohl das, wie sie wusste, sinnlos war, falls Mr. Cadwick in ihrer Abwesenheit hineinwollte.
»Im Gegensatz zu Ihrer Meinung, dass ich mich ausschließlich im Haus vergrabe, habe ich einen Job«, sagte sie, »und dorthin möchte ich nicht zu spät kommen. Sie müssen sich Ihre Gedanken um mich leider allein weitermachen.«
»Sie sind sehr unfreundlich«, stellte er betrübt fest und stierte sie sehnsüchtig an, trat aber zur Seite und ließ sie vorbei. Als sie schon fast unten war, lehnte er sich über die Brüstung.
»Wissen Sie, was ich glaube?«, rief er.
Gegen ihren Willen blieb sie stehen.
Er kann nichts wissen, dachte sie, er kann keine Ahnung haben.
»Sie verstecken sich vor irgendjemandem! Ja, genauso kommen Sie mir vor. Vor irgendetwas oder irgendjemand haben Sie schreckliche Angst! Sie sind auf der Flucht, und ausgerechnet mein Haus haben Sie sich als Versteck ausgesucht! Und das soll mich nichts angehen?«
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Mit schnellen Schritten ging sie zur Haustür.
»Aber ich will Ihnen doch nur helfen!«, rief er.
Sie trat auf die Gasse, schlug die Tür hinter sich zu, lehnte sich aufatmend dagegen. Sie wusste, dass sie hektische rote Flecken im Gesicht hatte und dass ihre Stirn von Schweiß glänzte.
Ich darf nicht in Panik geraten, dachte sie, ich muss gut überlegen.
Sie glaubte tatsächlich nicht, dass Cadwick irgendetwas wusste. Er hatte lediglich einen Verdacht geäußert und war zufällig in die richtige Richtung geraten. Wozu allerdings nicht viel Scharfsinn gehörte. Sie verhielt sich ängstlich, neurotisch, kapselte sich von ihrer Umwelt ab, hatte keinerlei Privatleben. Keine Freunde, keine Familie. Einem Mann wie Mr. Cadwick musste sie vorkommen wie eine Frau, die aus dem Nichts gekommen war, im Nichts lebte und ins Nichts gehen würde. Und dazwischen offenbar von Panikattacken heimgesucht wurde. Kein Wunder, dass ihm dies seltsam vorkam und seine Fantasie beschäftigte.
Die Frage war: Konnte er ihr gefährlich werden?
Sie lief die Gasse entlang, wie immer mit gesenktem Kopf, den Schal hochgezogen, so dass er halb ihr Gesicht verdeckte. Das Wetter war nicht mehr so kalt wie während der letzten Wochen, aber noch immer wehte ein recht frischer Wind, so dass ihre Vermummung nicht merkwürdig wirkte. Noch nicht. Mit dem fortschreitenden Frühling würde sie mehr und mehr von der Tarnung, die ihr die Kleidung bot, ablegen müssen. In jedem Jahr empfand sie den Frühling deshalb als problematisch. Wenn es dann Sommer geworden war, hatte sie sich an den Zustand verstärkter Schutzlosigkeit einigermaßen gewöhnt, aber der Weg dorthin war hart.
Eigentlich konnte er nicht gefährlich werden. Es war nahezu ausgeschlossen, dass er etwas von ihrer Vorgeschichte wusste oder gar dass er
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