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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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wünschte nichts mehr, als dass er noch viele Jahre mit ihr lebte, aber an Tagen wie diesem dachte sie auch ein klein wenig neidisch, und deswegen zugleich sehr schuldbewusst, an Menschen, die keinen Hund besaßen. Und deswegen nicht bei jedem noch so scheußlichen Wetter vor die Tür mussten.
    Der Februar hatte in der letzten Woche schon einen frühlingshaften Anstrich gehabt, dann war über das Wochenende noch einmal leichter Schneefall gekommen, und nun war alles in kalten Regen und graue Trostlosigkeit übergegangen. Man hätte meinen können, in den November zurückgekehrt zu sein. Georgina, die in einem Friseursalon arbeitete, hätte sich gern wie ihre Kolleginnen eine Pizza bestellt und es sich in dem kleinen Hinterraum für eine Dreiviertelstunde gemütlich gemacht, aber wie jeden Mittag musste sie nach Hause hasten, um eine Runde mit Bluebird zu gehen. Der Hund freute sich schrecklich, wenn er sie sah, und wenn sie nach der Leine griff, flippte er völlig aus. Seine Leidenschaft, nach draußen zu gehen, wurde mit dem Alter nicht geringer.
    Georgina lebte in Epping, einer Gemeinde im Norden Londons, und sie hatte es von ihrer Hochhauswohnung nur ein paar Schritte weit hinüber zum Epping Forest, einem riesigen Waldgebiet, das an den Wochenenden von erholungssuchenden Londonern nur so überschwemmt wurde. Man konnte stundenlang wandern, wunderbar Fahrrad fahren, Picknicks veranstalten oder auf einer der vielen Bänke sitzen und einfach nur träumen. Selbst unter der Woche traf man immer wieder auf Menschen, so dass sich Georgina selten wirklich allein in den tiefen Wäldern gefühlt hatte. Ängstlich war sie ohnehin nicht. Sie hatte schließlich Bluebird. Er war eine imposante Erscheinung und noch immer ganz schön fit, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie überfiel, solange der Hund in ihrer Nähe war.
    An diesem scheußlichen, kalten, nassen Tag war natürlich niemand unterwegs. Georgina schritt kräftig aus. Einmal hoffte sie, dass ihr dadurch warm würde, zum anderen aber war auch ihre Mittagspause begrenzt, und sie konnte sich nie allzu viel Zeit lassen, wenn sie die gewohnte Runde schaffen wollte. Auf einem breiten, sandigen Weg ging es ein gutes Stück in den Wald hinein, dann bog sie in einen dunklen, schmalen Trampelpfad ein, den jeder übersehen hätte, der ihn nicht kannte. Hier konnte man durch die Wipfel der Bäume hindurch kaum mehr den Himmel sehen, zudem war der Boden jetzt im Winter völlig verschlammt. Georgina benutzte ihn nur deshalb, weil er nach einer Weile wiederum auf einen breiten Weg stieß, der in einem Bogen zu ihrem Ausgangspunkt zurückführte.
    An diesem Tag bereute sie es, an ihrer Gewohnheit festgehalten zu haben und nicht einfach umgekehrt zu sein. Tiefhängende, nasse Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und mehr als einmal wäre sie im Schlamm fast ausgerutscht und hingefallen. Sie trug hohe, gefütterte Gummistiefel, die sie unter der Dusche würde abbrausen können, aber Bluebird wieder einigermaßen sauber zu bekommen, dürfte zum Kraftakt werden. Aus unerfindlichen Gründen wurde er panisch, wenn sie sich ihm mit einem Handtuch näherte. Sie würde zu spät in den Salon zurückkommen, und Mrs. Wentworth, die Chefin, würde missbilligend die Augenbrauen hochziehen.
    Wo war Bluebird überhaupt?
    Georgina blieb stehen. Mit gesenktem Kopf gegen Regen und Äste ankämpfend, hatte sie auf den Hund gar nicht mehr geachtet. Für gewöhnlich lief er ein Stück vorweg, drehte aber regelmäßig um und vergewisserte sich, dass sie folgte. Jetzt ging ihr auf, dass er dies schon seit einer Weile nicht getan hatte.
    »Bluebird!«, rief sie. »He, Bluebird!«
    Ein Vogel hob sich über ihr kreischend in die Luft, sonst blieb alles still.
    Sie machte ein paar Schritte zurück. »Bluebird! Bei Fuß! Sofort! Bluebird!«
    Er war kein Jäger. Sie hatte es noch nie erlebt, dass er Hasen oder Rehen nachsetzte, deshalb glaubte sie auch nicht, dass er das jetzt getan hatte.
    Sie fühlte auf einmal etwas, was sie in all den Jahren auf ihren Spaziergängen im Epping Forest noch nie gefühlt hatte: eine unbestimmte, noch ganz leise Furcht, die sich durch ein sanftes Ziehen im Magen und ein Kribbeln in den Handflächen ankündigte und kaum merklich stärker wurde. Sie registrierte, wie allein sie war. Wie undurchdringlich und dunkel der Wald ringsum. Wie fern alle anderen Menschen.
    Wieder kreischte irgendwo ein Vogel. Der Regen rauschte.
    Du darfst dich in nichts hineinsteigern,

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