Die Letzte Spur
jemanden kannte, der ein Teil davon gewesen war. Ansonsten hätte er das mit Sicherheit angedeutet. Blieb nur, dass er zur Polizei ging. Aber womit? Wollte er den Beamten erzählen, dass seine Mieterin seltsam war, keine Männerbekanntschaften pflegte und ihm als äußerst schreckhaft auffiel? Mehr konnte er schließlich nicht gegen sie vorbringen. Deswegen rückte die Polizei nicht aus.
Sie hielt den Kopf nun höher, merkte, wie etwas von dem Gewicht, das Mr. Cadwick ihr aufgeladen hatte, von ihren Schultern fiel.
Dennoch beschlich sie das Gefühl, dass sich ihre Zeit in Langbury dem Ende zuneigte. Mr. Cadwick war ihr von Anfang an zutiefst unangenehm gewesen, aber er hatte sie wenigstens in Ruhe gelassen. Damit konnte sie von nun an nicht mehr rechnen. Der Mann war nicht dumm. Er hatte sicherlich gespürt, wie sehr er sie am Morgen in die Enge hatte treiben können, und er würde es wieder versuchen. Vielleicht sollte sie sich eine andere Unterkunft suchen. Aber Langbury war klein. Am Ende würde auch ein Umzug Mr. Cadwick nicht daran hindern, sie weiterhin zu verfolgen. Außerdem hatte sie es sich von Anfang an zum Prinzip gemacht, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben. Es war besser, das Weite gesucht zu haben, ehe nach und nach alle damit anfingen, dumme Fragen zu stellen und sich über das eigenartige Verhalten der Fremden zu wundern.
Die Vorstellung, nicht mehr allzu lange in dem dunklen Loch über Mr. Cadwick wohnen zu müssen, belebte sie ein wenig; sie ging schnellen Schrittes die Straße entlang und hielt den Kopf höher als sonst.
2
Marc Reeves Weigerung, mit ihr zu kooperieren, hatte Rosanna aus dem Konzept gebracht, aber sie versuchte, vernünftig zu sein und sich zu sagen, dass dies ihre Arbeit nicht behindern musste. Nick hatte ihr genügend Material aus dem Archiv mitgebracht, dass sie die Geschehnisse von damals rekonstruieren konnte. Was Reeves heutiges Leben anging, blieb sie allerdings auf Vermutungen angewiesen. Immerhin wusste sie, dass sein Einstieg in die große Kanzlei nicht geklappt und er sich stattdessen selbstständig gemacht hatte. Das mochte nicht ganz leicht gewesen sein. Wo stand er heute? Hatte er sowohl sein berufliches wie sein privates Leben wieder geordnet, die Scharten ausgewetzt, die ihm damals zugefügt worden waren? Aber wenn alles gut lief, wäre er dann so bitter? Er hatte erschöpft und frustriert geklungen, als sie auf das Thema Elaine zu sprechen gekommen war.
Hatte er noch immer mit Auswirkungen zu kämpfen?
Vorsicht mit Spekulationen, ermahnte sie sich, bleib bei den Fakten!
Sie hatte an diesem Morgen im Hotel auch das Material zu den anderen Fällen gesichtet, über die sie schreiben sollte. Ein alter Mann, der acht Jahre zuvor aus einem Heim davongelaufen war und von dem man nie wieder etwas gehört, dessen Leiche man jedoch auch nicht gefunden hatte. Ein junger Mann, der sich abends von seiner Familie verabschiedet hatte, um sich noch rasch irgendwo ein paar Flaschen Bier zu kaufen, und der seitdem ebenfalls als vermisst galt. Ein junges Mädchen, das sich mit seinem Freund an einer Bushaltestelle hatte treffen wollen. Sie war von daheim weggegangen, an der Haltestelle jedoch nie angekommen. Der Weg dorthin hatte nur ein paar Meter betragen, der Freund, der bereits länger gewartet hatte, hätte sie von der Haustür auf sich zukommen sehen müssen. Und zwei weitere Fälle. Sechs Stück insgesamt.
Sie hatte viel zu tun. Eine Menge Menschen zu kontaktieren, zu treffen, ihre Aussagen zu notieren. Und schließlich noch die Serie zu schreiben. Sie hatte nicht die Zeit, sich zu sehr in Elaines Geschichte zu verbeißen und sich von Reeves Absage tagelang blockieren zu lassen. Nick hatte sie gewarnt, dem Fall Elaine auf Grund ihrer persönlichen Betroffenheit zu viel Gewicht zu geben.
Es klopfte an der Tür, und Cedric kam herein. Frisch geduscht, in seiner üblichen Lederjacke und den abgetragenen Jeans.
»Morgen«, sagte er.
Sie musste lachen. »Es ist elf Uhr. Bist du eben erst aufgestanden?«
Er gähnte. »Ja. Und du? Arbeitest du schon?«
»Ich bin die ganzen Fälle durchgegangen. Ziemlich viel Arbeit, das alles.«
»Ein Grund mehr, Reeve Reeve sein zu lassen und einfach anzufangen«, meinte Cedric. Am Vorabend im Restaurant hatte sie ihm deprimiert von ihrem Telefonat mit dem Anwalt erzählt, und Cedric hatte gesagt, sie solle sich dadurch nicht behindern lassen. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, was in ihr vorging: dass sie über Reeve
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