Die Letzte Spur
Aquarelle. Ich habe gehört, dass sie in Kunstkreisen recht bekannt war.«
»Du hast mir damals erzählt, dass du sie ein paar Mal angetroffen hast, als sie aus dem Haus kam und völlig verweint war«, erinnerte ihr Mann ungeduldig.
»Das stimmt. Ich habe sie aber nicht angesprochen, sondern so getan, als bemerkte ich sie nicht. Ich dachte mir … nun, dass sie so nicht gesehen werden möchte. Daher weiß ich auch nicht, weshalb sie so… aufgelöst war.«
»Man kam manchmal nicht umhin, ziemlich lautstarke Auseinandersetzungen von nebenan mitanzuhören«, sagte Richard Hall, und es war ihm anzumerken, dass er diesen Umstand durchaus genossen hatte. »Und wenn Sie mich fragen …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
Das geht mich eigentlich nichts an, dachte Rosanna unbehaglich, und es hat auch nichts mit der Geschichte zu tun.
Obwohl gerade die eheliche Situation Marc Reeves damals in der Presse durchaus eine Rolle gespielt hatte. Sie entsann sich der verschiedenen Artikel und Berichte, die sie gelesen hatte, vorwiegend aus dem Bereich des Klatschjournalismus. Nirgends war unerwähnt geblieben, dass Mrs. Reeve mitsamt ihrem Sohn ausgezogen war, und zwischen den Zeilen waren die verschiedensten Vermutungen über den Grund hierfür durchgeschimmert: Sie reichten vom ununterbrochenen Fremdgehen Mr. Reeves über einen Hang zu extrem jungen Mädchen bis hin zu Gewalttätigkeiten, zu denen es in seiner Ehe immer wieder gekommen sein sollte. Soweit es der juristische Rahmen zuließ, hatte man nichts unversucht gelassen, ihn in die Nähe eines triebgesteuerten Gewalttäters zu rücken, um dann den Lesern die alles entscheidende Frage zu stellen: Hatte Marc Reeve Elaine Dawson umgebracht?
Obwohl Rosanna stumm geblieben war, konnte es sich Mr. Hall natürlich nicht verkneifen, seine Meinung kundzutun. »Wenn Sie mich fragen«, wiederholte er, »dann hatte sie seine Seitensprünge satt. Und ich würde mich auch nicht wundern, wenn …«
»Ja?«
»Ich glaube, dass er ganz schön ausrasten konnte, wenn die Dinge anders liefen, als er wollte. Und das dürfte die arme Mrs. Reeve manchmal auch zu spüren bekommen haben.«
Rosanna nickte langsam. »Dafür haben Sie aber keine konkreten Anhaltspunkte?«
»Dafür, dass er sie misshandelt hat? Dass er ständig fremdging? Natürlich nicht. Er war ein sehr ehrgeiziger und kluger Mann. Solche Typen tarnen sich perfekt. Aber… es war einfach … es lag so in der Luft, verstehen Sie? Es gibt Menschen, da ahnt man förmlich, dass sich hinter ihrem feinen Äußeren etwas Unangenehmes verbirgt. Das ist wie ein schlechter Geruch, den man wahrnimmt, aber sich nicht erklären kann. Reeve war mir von Anfang an zutiefst unsympathisch und suspekt. Ich bin heilfroh, dass er nach der Scheidung dann ziemlich bald von hier fortzog.«
Rosanna hatte sich ein paar Notizen gemacht. Nun klappte sie ihr kleines schwarzes Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Sie stand auf.
»Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte sie. »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Mr. Hall.«
Auch Hall erhob sich. »Gern geschehen. Hier«, er reichte ihr ein weißes Kärtchen, »finden Sie alle Informationen, wie Sie mich kontaktieren können. Telefon zu Hause und im Büro, E-Mail-Anschrift, Fax … Ich stehe Ihnen jederzeit wieder zur Verfügung.«
Er schien es kaum erwarten zu können.
»In Ordnung«, sagte Rosanna, »ich komme darauf zurück, wenn ich noch eine Information brauche.«
Als sie zur Tür gingen, sagte sie provozierend: »Sie meinen also, Marc Reeve hat etwas mit Elaine Dawsons Verschwinden zu tun?«
Er blieb stehen. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber …«
»Lassen Sie es mich so formulieren: Wenn sich herausstellte, dass er etwas damit zu tun hat, ich würde mich nicht wundern.« Er öffnete ihr die Tür. Feuchtkalte Luft schlug ihnen entgegen. Es hatte zu regnen begonnen.
»Nein«, bekräftigte er, »wirklich, ich würde mich überhaupt nicht wundern.«
4
Georgina Ennis liebte ihren Hund Bluebird, einen schwarzen Labrador-Irgendetwas-Mischling, dessen Fell als Welpe einen Blaustich gehabt hatte, dem er seinen Namen verdankte. Inzwischen ging der Farbton eher ins Grau, denn Bluebird war schon stolze zwölf Jahre alt. Georgina, die immer nur Pech mit den Männern gehabt hatte und nun mit fast fünfzig Jahren beschlossen hatte, den Gedanken an die große Liebe aufzugeben und sich mit dem Alleinsein anzufreunden, sah in Bluebird ihre einzige Bezugsperson und
Weitere Kostenlose Bücher