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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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vor jenem Januarabend war Mrs. Reeve nebenan ausgezogen. Den gemeinsamen Sohn hatte sie mitgenommen. Seitdem lebte Marc Reeve allein, und nach allem, was ich so mitbekam … gab es ein paar Damenbekanntschaften in der Zeit. Verschiedene Damen. Die zumeist über Nacht blieben.«
    Du hast aber ganz genau aufgepasst, dachte Rosanna. Sie empfand Mitleid mit Reeve. Ein Albtraum für einen Mann, der mitten im Sprung in die ganz große Karriere war, wenn ein solcher Nachbar mit derlei intimen Details an die Öffentlichkeit ging.
    »Und in diese Reihe passte Elaine Dawson nicht?«
    »Absolut nicht. Reeves … Begleiterinnen waren allesamt überdurchschnittlich attraktive Frauen. Gut und teuer gekleidet. Zumeist Anwältinnen, nehme ich an, oder Frauen, die sonst irgendwie mit seinem Beruf zu tun hatten. Frauen mit Stil und Klasse… wenn man davon absieht, dass sie sich offenbar nicht zu schade für einen One-Night-Stand waren. Aber was das betrifft, haben sich die Zeiten ja geändert.«
    Und du warst verdammt neidisch, Abend für Abend hinter deinem Wohnzimmerfenster, dachte Rosanna, und du hast es richtig genossen, ihm dann eins auszuwischen. Du genießt es ja heute noch!
    »Na ja, und diese Miss Dawson gab ein völlig anderes Bild ab«, fuhr Hall fort, »einmal war sie wirklich sehr jung – und Reeve hatte bis dahin nie ausgesprochen junge Frauen mit nach Hause gebracht. Und dann war sie so … unscheinbar. Ja, das ist das richtige Wort. Nicht direkt hässlich, aber einfach eine graue Maus. Sie trug einen wirklich scheußlichen Mantel, billig und schlecht geschnitten. Dann dieser Plastikkoffer. Ihre Haare – unmöglich! Sie sah aus wie eine vom Dorf, die absolut keine Ahnung hat, wie man sich als Frau ein bisschen ansehnlich zurechtmachen kann.«
    Das war eine ziemlich gute Beschreibung von der Elaine, die auch Rosanna gekannt hatte.
    »Wie wirkte sie? Ängstlich? Freudig?«
    »Sie war verweint. Sie weinte nicht mehr, aber sie hatte sichtlich geweint. Freudig wirkte sie ganz bestimmt nicht. Ängstlich allerdings auch nicht. Eher … ein bisschen apathisch vielleicht. Erschöpft.«
    »Die beiden verschwanden im Haus?«
    »Ja, aber nach zehn Minuten etwa kamen sie wieder raus.«
    »Ja?«
    »Ich stand immer noch am Fenster. Ich machte mir Sorgen. Unser Sohn war normalerweise immer pünktlich. Mary – meine Frau – telefonierte inzwischen mit den Eltern des Freundes …«
    »Was taten Reeve und Elaine?«
    »Sie gingen die Straße entlang. Richtung King's Road.«
    »Hatten Sie den Eindruck, dass die beiden …?«
    »… ein Liebespaar waren? Absolut nicht. Weder hatten sie die Arme umeinander gelegt, noch hielten sie sich an den Händen oder irgendetwas in der Art. Sie gingen einfach nebeneinander her. Wie zwei Bekannte, die keine nähere Verbindung haben.«
    »Wissen Sie, wohin sie gingen?«
    »Reeve soll bei der Polizei behauptet haben, dass sie ein italienisches Restaurant aufsuchten. Offenbar ist das von dem Besitzer dort auch bestätigt worden. Er konnte sich an die beiden erinnern. Aber was danach war …« Hall hob beide Schultern.
    »Sie haben sie jedenfalls nicht zurückkommen sehen?«
    »Nein. Mein Sohn kam, wir haben zu Abend gegessen, ich habe die Schulaufgaben der Kinder kontrolliert und später mit meiner Frau ferngesehen. Ich habe nicht mehr rausgeschaut.«
    »Dass Reeve Miss Dawson am nächsten Morgen zur U-Bahn begleitet hat, haben Sie auch nicht gesehen?«
    »Nein. Ich stehe ja nicht ständig am Fenster!«, sagte Hall fast empört. »Im Grunde interessiert es mich ja nicht, was die Nachbarn so treiben.«
    »Verstehe«, sagte Rosanna. Sie war überzeugt, dass er ziemlich genau wusste, was seine Nachbarn trieben. Sie kam sich ein wenig voyeuristisch vor und hatte ein leises Schuldgefühl gegenüber dem unbekannten Marc Reeve, dennoch stellte sie die nächste Frage: »Wissen Sie, weshalb Mrs. Reeve ausgezogen war?«
    Hall wandte sich zu seiner Frau um, die gerade das Tischtuch akkurat zusammenfaltete. Sie bewegte sich so leise, dass Rosanna ihre Anwesenheit völlig vergessen hatte. »Mary, du hast doch öfter mit der Reeve geredet!«
    »Ich habe nur selten mit ihr geredet«, widersprach Mrs. Hall, »sie erzählte nicht viel von sich. Sie hatte eine kranke Mutter, die in einem Altenheim bei Cambridge untergebracht war. Sie fuhr oft dorthin. Sie wirkte dann immer … irgendwie verstört. Das Leiden ihrer Mutter ging ihr wohl sehr nahe. Mrs. Reeve war eine sehr sensible Frau. Sie hat immer gemalt. Sehr schöne

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