Die Letzte Spur
Elaine näherkommen wollte, nicht für die Serie, sondern für sich selbst.
»Ich kann nicht direkt sagen, dass ich ein Schuldgefühl wegen all dem habe«, hatte sie gesagt, »aber es ist nicht abzustreiten, dass es meine Hochzeit war, zu der sie wollte. Wegen meiner Einladung hat sie Kingston St. Mary verlassen und ist nach London gereist. Für die Elaine, die wir kannten, war das ein ungeheures Unternehmen. Sie kommt bis Heathrow, und dann verschwindet sie.«
»Nicht deine Schuld.«
»Nein. Aber trotzdem war ich die Ursache. Ich bin irgendwie … ein Teil der Geschichte. Ohne mich – ohne meine Hochzeit – wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.«
»Aber«, hatte Cedric entgegnet, »darüber darfst du dich jetzt nicht aufreiben. Das bringt niemandem etwas. Wir sind alle immer Teil von irgendwelchen Geschichten und dennoch nicht jedes Mal für deren Verlauf verantwortlich. Du hast geheiratet, und es war eine nette Geste von dir, die gute, alte Elaine einzuladen. Irgendetwas ist schiefgelaufen, aber du kannst noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass es etwas mit der Reise zu tun hatte. Vielleicht hat Elaine deine Hochzeit als Gelegenheit benutzt. Um mit einem verheirateten Liebhaber durchzubrennen, zum Beispiel. Was sie eine Woche später von Kingston St. Mary aus auch getan hätte!«
»Also, Cedric, wirklich! Elaine und ein verheirateter Liebhaber! Elaine und überhaupt ein Liebhaber ist schon schwer vorstellbar!« Sie hatten beide gelacht, aber es war kein fröhliches, entspanntes Lachen gewesen. Dafür lag zu viel grausames Schicksal über der Familie Dawson, mehr, wie Rosanna manchmal gedacht hatte, als eine einzige Familie verdiente. Zwei Geschwister, der Bruder querschnittsgelähmt, die Schwester spurlos verschwunden. Beide Eltern schon lange tot, was den jungen Mann zu einem Leben im Schwerbehindertenheim verurteilte.
»Es ist schon seltsam«, meinte Rosanna nun, »dass ich all die Jahre kaum über Elaine und ihr Schicksal nachgedacht habe, und nun auf einmal fällt es mir so schwer, souverän damit umzugehen. Ich bin viel zu beteiligt, Cedric. Aber deswegen alles absagen …«
»Dann glaubt Dennis noch, er habe gewonnen«, sagte Cedric. »Apropos: Hat sich dein Gatte heute schon gemeldet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich mich auch nicht. Er hat mir gestern mit den Worten, es sei alles gesagt, das Gespräch abgeschnitten und einfach aufgelegt. Ich finde, es ist an ihm, wieder anzurufen.«
»Wenn du diese Einstellung durchhältst, bin ich stolz auf dich«, sagte Cedric etwas skeptisch. Er sah auf seine Uhr.
»Ich muss los. Ich fahre nach Cambridge und treffe eine Kommilitonin von früher. Kann ich das Auto haben?«
Sie hatten sich von Kingston St. Mary nach London gemeinsam einen Leihwagen genommen. Rosanna nickte. »Ich brauche ihn nicht. Cedric …« Sie zögerte.
»Ja ?«
»Ach nichts.« Es war nicht der Moment, ihm einen Vortrag darüber zu halten, dass er seine Zeit vergammelte. Dass er schon wieder in den Tag hineinlebte, anstatt etwas anzustreben, das ihn voranbrachte.
Sie hatte keine Lust, mit ihm zu streiten.
»Es ist wirklich nichts«, wiederholte sie.
Er wirkte erleichtert. Vermutlich ahnte er, welche Gedanken ihr im Kopf herumgegangen waren.
»Ich muss los«, sagte er, »leb wohl! Bis heute Abend!« Er öffnete die Tür, blieb aber dann stehen. »Ich hatte da noch einen Gedanken«, sagte er, »weil doch Reeve nicht mit dir sprechen will. Du erwähntest gestern Abend einen Nachbarn, der ihn und Elaine gesehen und Reeve daraufhin bei der Polizei gemeldet hatte. Vielleicht gibt's den noch. Du könntest versuchen, mit ihm zu reden. Es ist nicht das Gleiche, aber er hat Elaine noch einmal gesehen. Und er könnte ein bisschen erzählen, was Reeve für ein Typ ist.«
Sie sah ihren Bruder an. »Manchmal bist du einfach genial, Cedric!«
Er grinste. »Mir liegt an deinem Seelenheil. Mach's gut!« Er verschwand.
Sie griff sofort nach dem Ordner Dawson .
Wo konnte sie Angaben zu dem Mann finden, der Reeve damals der Polizei gemeldet hatte?
Zwei Stunden später saß sie Marc Reeves einstigem Nachbarn gegenüber und konnte es kaum fassen, so viel Glück gehabt zu haben: den Mann zu finden und ihn auch noch daheim anzutreffen. Und Zeit nahm er sich auch für sie. Wobei das kein Wunder war: Sie hatte ihn während der ersten beiden Minuten schon als einen Schwätzer und Wichtigtuer erkannt. Die Sache mit Reeve und Elaine damals und seine eigene Rolle in der Presse waren
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