Die Letzte Spur
umarmte ihn. Der Hund war eine einzige tropfnasse Schlammkugel, aber das war ihr egal.
»Birdie, du Schaf, was machst du denn? Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Ich habe solche Angst gehabt! Nun komme ich viel zu spät zur Arbeit und habe jede Menge Ärger!«
Bluebird, der normalerweise nichts lieber tat, als zu kuscheln, entwand sich ihren Armen, machte ein paar Sprünge zurück und bellte wieder. Sie erhob sich.
»Was ist denn? Willst du mir etwas zeigen?«
Er rannte vor ihr her. Sie folgte ihm. Der Regen rauschte. Die Moorhühner waren verstummt. Trotz der Hitze in ihrem Körper begann Georgina wieder zu frösteln. So wie vorhin, als sie sich ihres Alleinseins plötzlich bewusst geworden war. Da war wieder das Ziehen im Magen. Dieses ungute Gefühl.
Was hatte Bluebird gefunden?
Sie sah die Frau im Schilf liegen. Der Bewuchs war hier so dicht, dass sie sie nie entdeckt hätte, wäre sie nicht hinter dem Hund hergekrochen. Die Frau lag sehr seltsam da, mit einem verkrampften, verdrehten Körper. Ihr Gesicht verschwand im brackigen Wasser. Um ihren Kopf herum schwammen lange blonde Haare auf der braunen Brühe. Bluebird, der sich offenbar schon seit einiger Zeit an dem Körper zu schaffen machte, hatte den Schlamm des Sees an dieser Stelle gründlich aufgewühlt.
»O Gott«, flüsterte Georgina, »o Gott!«
Sie wollte umdrehen und so schnell sie konnte davonlaufen, aber sie vermochte sich nicht zu bewegen. Sie stand ein paar Sekunden völlig still da und starrte fassungslos auf das Bild, das sich ihr bot. Erst als Bluebird laut aufjaulte, erwachte sie aus ihrer Reglosigkeit. Aber anstatt zu tun, was sie eigentlich tun wollte und was ihr auch eine leise Stimme in ihrem Kopf wieder und wieder zuraunte – Mach, dass du wegkommst! Mach, dass du wegkommst! –, trat sie näher an die Frau heran, gefangen in einem seltsamen Bann des Grauens.
Es war ein eigentlich noch mädchenhafter Körper, schmal, glatt und fest. Lange, schlanke Beine, um deren Knöchel sich eine schwarze, zerrissene Strumpfhose wand. Das Mädchen trug keine Schuhe, aber Georgina erblickte unweit der Szenerie einen dunklen Stöckelschuh, der im Uferschlamm dümpelte. Der Slip des Mädchens hing in den Kniekehlen, ein winziges, nasses, schwarzes Stück Wäsche; ob er, wie die Strumpfhose, zerrissen war, vermochte Georgina nicht zu erkennen. Die langen dunklen Blutkrusten entlang der Oberschenkel, der bis in die Taille hochgeschobene Rock verrieten ohnehin, was geschehen war: Auf brutalste Art war dieses Mädchen oder diese junge Frau vergewaltigt worden, irgendwo in diesen einsamen Wäldern, und dann… hatte sie sich in ihrer Verzweiflung mit dem Gesicht voran in diesen Tümpel gestürzt …
Das konnte nicht stimmen.
Georgina registrierte die mit Stricken auf den Rücken gefesselten Arme des Mädchens, und ihr kam der Gedanke, dass wohl niemand sich selber fesselte, bevor er sich ertränkte, und das führte sie zu der entsetzlichen Folgerung, dass jemand anders, der Vergewaltiger wahrscheinlich, sein wehrloses Opfer hierhergeschleift und wie einen Müllsack in die Uferböschung gekippt hatte. Das Bild vor ihren Augen zeigte nicht nur eine ungewöhnliche Brutalität, sondern auch eine grausame Verächtlichkeit, eine Demütigung, die über den Akt der Vergewaltigung hinausreichte und dem Opfer noch im Tod die Würde nahm.
Ein Moorhuhn schrie und störte die Stille, die über der Lichtung lag, und auf einmal schoss Georgina die Vorstellung durch den Kopf, dass das alles, was sie hier sah, nicht ein tage- oder stundenaltes Stillleben war, sondern am Ende gerade eben passiert war. Bluebird hatte den Täter überrascht und vertrieben, aber irgendwo lungerte er noch herum, und es erschien auf einmal fraglich, ob er sich von einem alten Hund und einer Frau wirklich daran hindern ließe, zu vollenden, was immer er vorgehabt haben mochte.
»Birdie«, zischte sie, »Birdie, schnell, komm! Wir verschwinden hier!« Bluebird bellte.
Was, wenn die Frau noch lebte? Wenn sie gerade erst… Wie lange überlebte ein Mensch, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag? Georgina hatte keine Ahnung, aber es war ihr klar, dass die Frau keinesfalls noch leben würde, bis sie selbst den Rückweg gefunden und von ihrer Wohnung aus die Polizei alarmiert hatte. Sie war fast krank vor Angst, aber mit aller Energie ignorierte sie das Grauen, das sie zu überwältigen drohte, und balancierte durch das flache, sanft ans Ufer schwappende Wasser näher zu dem
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