Die Letzte Spur
ermahnte sie sich, es ist bloß so, dass dein Hund offenbar losgestreunt ist. Mehr ist nicht passiert.
»Birdie!«, rief sie ihn bei seinem Kosenamen. »Birdie! Birdie, wo bist du?«
Sie lauschte ihrer Stimme nach. Sie hatte den Eindruck, dass der Klang nicht weit reichte. Der Regen verschluckte das Geräusch.
»Birdie!«
Plötzlich meinte sie in der Ferne ein Bellen zu vernehmen. So leise, dass sie im ersten Moment dachte, sie habe sich getäuscht. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper spannte sich an, als sie erneut lauschte. Doch, da war es. Ziemlich weit weg, wie ihr schien. Ein Hund bellte. Es konnte Bluebird sein.
Sie eilte den Trampelpfad weiter entlang, nahm jetzt rücksichtslos in Kauf, dass ihr die schweren Äste ins Gesicht schlugen. Ihre Füße verursachten saugende Geräusche im Schlamm. Sie würde zu spät in den Salon kommen, und sie würde wahrscheinlich blutige Kratzer im Gesicht haben und aussehen, als sei sie unter den Räubern gelandet, aber das war ihr egal. Es ging um Bluebird. Ihren einzigen echten Freund.
Am Ende des Pfads blieb sie schwer atmend stehen. Sie hatte sich so beeilt, dass sie Seitenstechen bekam. Normalerweise wäre sie auf dem breiteren Weg nun nach rechts abgebogen, um zur Siedlung zurückzukehren, aber sie hatte vorhin den Eindruck gehabt, dass das Bellen jedenfalls nicht von dort kam.
Sie rief erneut. »Bluebird! Birdie!«
Wieder das Bellen. Es klang schon ein wenig näher. Gegenüber der Stelle, an der ihr Pfad in den befestigten Weg mündete, entdeckte sie eine Art Schneise zwischen den Bäumen. Eine Fortsetzung des Schlammlochs, aus dem sie gerade kam. Nur noch schmaler. Und wahrscheinlich noch schlammiger.
Sie stolperte vorwärts. Tauchte in ein fast undurchdringliches Dickicht ein. Wasser lief ihr in den Kragen und rann ihren Rücken hinunter. Es fühlte sich eiskalt und widerlich auf ihrer völlig verschwitzten Haut an. Das, was zu Beginn noch wie ein minimaler Durchgang zwischen den Bäumen gewirkt hatte, verengte sich ganz, und sie musste sich direkt durch die Büsche kämpfen. Nach wenigen Minuten schon wusste sie nicht mehr, wo vorne und hinten war, woher sie kam und wohin sie ging. Ihr einziger Anhaltspunkt war das Bellen des Hundes – Birdie? –, das zuverlässig antwortete, wann immer sie innehielt und rief. Ihr kam der Gedanke, dass man sich in dem unübersichtlichen, meilenweiten Waldgebiet durchaus verlaufen konnte. Sie hatte von Menschen gelesen, denen das passiert war, von Wanderern, denen es nicht mehr gelungen war, einen Ausweg zu finden. Es hatte Suchtrupps gegeben, die alles nach ihnen durchkämmt hatten.
Wann würde man nach ihr suchen? Wer würde sie überhaupt vermissen? Die Chefin, die Kolleginnen. Wie lange würde es dauern, bis sie sich ernsthaft Sorgen machten? Und wie lange konnte sie bei Kälte und Regen in den Wäldern überleben?
Sie blieb stehen, um Luft zu holen und sich zu beruhigen. So weit ist es noch nicht. Und sowie du auf Bluebird gestoßen bist, ist alles okay. Ein Hund findet seinen Weg zurück .
Sie rief seinen Namen. Das Bellen klang eindeutig näher.
Ein letztes, extrem zugewuchertes Stück, heimtückische lange Brombeerranken, die sie böse zerkratzten und sich in ihren Haaren verfingen, dann sah sie bereits, dass es heller wurde. Sie erreichte eine Lichtung, auf der sich ein Weiher befand, ein kleiner Waldsee. Grau wie der Himmel, an den Rändern von Schilf und Gras zugewachsen. Die Wasseroberfläche kräuselte sich unter dem einfallenden Regen.
Es gab ein paar kleine Seen im Waldgebiet, und etliche davon waren zum Baden geeignet. Die Forstverwaltung hielt das Ufer sauber, die Wiesen ringsum wurden regelmäßig gemäht, und es waren auch ein paar Bänke aufgestellt worden. Dieser Tümpel, vor dem Georgina nun stand, gehörte eindeutig nicht dazu. Er war ziemlich klein, offenkundig nur schwer zu erreichen und vom Wald sehr dicht umzingelt. Ein paar Moorhühner stoben aus dem Schilf. Es sah aus, als sei hier noch nie ein Mensch gewesen, was aber nicht stimmen musste. Sicher schien bloß, dass wohl um diese Jahreszeit niemand hierherkam.
Sie atmete für den Moment auf, erleichtert, dass sie den Himmel wieder sehen konnte, und froh, dass ihr nicht mehr ständig irgendetwas ins Gesicht schlug. Dann sah sie Bluebird, der in großen Sprüngen auf sie zujagte. Er schien sehr aufgeregt und bellte laut und fordernd, wie er es für gewöhnlich nur tat, wenn er einen Ball geworfen haben wollte.
Sie kniete nieder und
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