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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Handgreifliche Auseinandersetzungen war er nicht gewohnt, auch verfügte er nicht über einen Bruchteil der Brutalität, für die Pit berüchtigt war.
    »Es ist nichts passiert«, wiederholte er ruhig, aber seine Wangen waren um eine Schattierung blasser geworden.
    »Nichts passiert, was? Nichts passiert? Du fährst mich fast platt, du Wichser, du Scheißer mit deinem feinen Auto, und dann dröhnst du hier rum, dass nichts passiert ist?« Zur Untermalung seiner Worte trat Pit kräftig gegen die Stoßstange des Mini. Es gelang ihm tatsächlich, sie mit einer Delle zu verzieren.
    »Hören Sie auf damit!«, protestierte der junge Mann.
    »Was gesagt, wie? Na komm, ich hab dich nicht verstanden, Wichser. Was hast du gesagt? Schön laut, damit ich's auch höre!« Pit kam um das Auto herum, stand in bedrohlicher Nähe des Fremden.
    Diesem schlug sichtlich das Herz bis zum Hals. Hilfesuchend blickte er sich um, aber die wenigen Menschen, die sich in diesem hinteren Bereich des riesigen Parkplatzes aufhielten, hasteten gesenkten Blickes davon. Pit war der Typ Mensch, um den jeder instinktiv einen Bogen machte. Niemand wollte sich in eine Auseinandersetzung mit diesem Inbegriff an Brutalität und Hass einlassen.
    »Ich sagte, Sie sollen aufhören, gegen meinen Wagen zu treten«, wiederholte der junge Mann, weil ihm nichts anderes übrig blieb, »sonst werde ich die Polizei rufen.«
    »Die Bullen? Die Bullen willst du rufen, Wichser? Mich platt fahren und dann die Bullen rufen? Findest du nicht, dass das 'n bisschen frech ist, wie? Bisschen sehr frech? Was? Lauter, Wichser. Ich höre nichts.«
    »Ich sagte auch nichts«, erwiderte der junge Mann.
    Warum bist du bloß nicht weggefahren? , dachte sie verzweifelt.
    Pits Faust schnellte nach vorne und traf den jungen Mann an der Nase. Er brach sofort in die Knie und ging zu Boden. Aus seiner Nase schoss ein Schwall Blut. Er presste seine Hand ins Gesicht und starrte fassungslos zu Pit hinauf.
    »Willst du immer noch die Bullen rufen? Ja? Ich hör nichts! Ich hör immer noch nichts!« Er trat seinem Opfer mit aller Kraft in die Rippen. Mit einem Schrei kippte der Mann zur Seite, lag zusammengekrümmt auf dem sonnenwarmen Asphalt.
    »Bitte«, stöhnte er leise, »nicht …«
    »Was? Was gesagt? Hast du echt was gesagt?« Der nächste Tritt folgte. Er war geeignet, dem anderen etliche Rippen zu brechen. Der junge Mann stöhnte lauter.
    Sie merkte, dass sein Blick hilfesuchend zu ihr glitt. Sie sah zur Seite. Sie konnte nichts für ihn tun. Sie wusste, was ihr blühte, wenn sie sich jetzt einmischte. Es war schrecklich für ihn, wegen nichts und wieder nichts auf diesem Parkplatz zusammengeschlagen zu werden, nur weil er das Pech gehabt hatte, im falschen Moment am falschen Ort gewesen und dabei einem Versager wie Pit begegnet zu sein, der einen Blitzableiter für seine Aggressionen und für seinen Hass auf die Gesellschaft suchte. Aber er würde daran nicht sterben, und er würde in sein normales Leben zurückkehren, in dem Männer wie Pit nicht vorkamen und in dem man höflich und auf kultivierte Art miteinander umging. Sie selbst konnte das nicht. Sie war an Pit gebunden und an Ron, und sie konnte es sich nicht leisten, ihre Lage zu verschlechtern. Pit hatte sie noch nicht geschlagen, aber er war mehr als einmal dicht davor gewesen, und sie wusste genau, dass er es irgendwann tun würde. Im Grunde kannte sie die Hölle, die sie erwartete, zu diesem Zeitpunkt bereits.
    An jenem Oktobertag auf dem Tesco-Parkplatz, den sich krümmenden, blutenden Mann zu ihren Füßen, stellte sie sich zum ersten Mal die Frage, ob das alte Leben nicht trotz allem besser gewesen war.
    Bis zum heutigen Tag erinnerte sie sich an die Antwort, die sie sich damals gegeben hatte: Aber ich kann nicht ohne Pit sein! Ich kann nicht mehr ohne einen Mann sein, der zu mir gehört.
    Sie hatte sich abgewandt und den wimmernden Mann auf dem Asphalt nicht angesehen, und schließlich hatte Pit genug gehabt, hatte ihr den Autoschlüssel aus der Hand gerissen und gesagt: »Los. Wir fahren.«
    »Aber … unsere Einkäufe?«, hatte sie gefragt, als komme es nur darauf im Moment an.
    »Kriegen wir woanders auch. Steig ein.«
    Sie waren eingestiegen und losgefahren, ziemlich hektisch und mit quietschenden Reifen, aber das tat Pit sonst auch, wenn er am Steuer saß, er ließ bei jeder Gelegenheit die Reifen quietschen. Im Rückspiegel hatte sie die zusammengekrümmte Gestalt gesehen, und ihr war kalt geworden am ganzen

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