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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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wollte den Toten zu einem posthumen Recht verhelfen. Er wollte die zur Rechenschaft ziehen, die vor dem schlimmsten Verbrechen nicht zurückgeschreckt waren: anderen das Leben zu nehmen.
    Dass sich die Realität anders darstellte als in den Romanen, war ihm natürlich rasch klar geworden. Ewig blieb man ja auch nicht ein kleiner Junge mit einem glühenden Sinn für Gerechtigkeit. Es ging ihm natürlich immer noch genau darum: um Gerechtigkeit. Aber viel von seinem Enthusiasmus war inzwischen verloren gegangen. Nicht nur, weil sich viele Fälle am Ende doch nicht aufklären ließen. Auch nicht nur deshalb, weil es einen Polizisten manchmal mit Verbitterung erfüllte, erleben zu müssen, mit welch geringem Strafmaß Leute davonkamen, die anderen unermessliches Leid zugefügt hatten. Was vor allem zermürbte, war der ständige Umgang mit Gewalt. Mit den niederen, scheußlichen, verdorbenen und perversen Seiten der Menschen. Immer wieder stand er an Leichenfundorten. Starrte auf tote Körper. Sah ausgelöschtes Leben. Wurde mit den Spuren nicht nachvollziehbarer Brutalität konfrontiert. Und mit der Trauer, dem Schmerz der Hinterbliebenen. Über diesen Aspekt hatte er als Teenager am wenigsten nachgedacht. Dass er immer und immer wieder mit den Angehörigen der Opfer würde zusammensitzen und das Entsetzen ansehen müssen, in das deren Leben so unvermittelt getaucht worden war. Dass er ihnen Fragen steilen musste, obwohl sie unter Schock standen und Ruhe, allenfalls noch psychologischen Beistand, gebraucht hätten. Er musste ihnen auf die Nerven gehen, solange die Spur noch einigermaßen warm war. Manchmal kam er sich dabei vor wie jemand, der ein Messer in eine Wunde stieß und es ständig umdrehte.
    Der Fall Biggs hatte eine Dimension angenommen, die ihn in den Zuständigkeitsbereich von Scotland Yard katapultiert hatte, daher blieb Fielder nichts anderes übrig, als die fassungslose Familie an diesem Morgen zu belästigen. Sally und Gordon hatten am Vortag die Tote aus dem Epping Forest einwandfrei und ohne zu zögern als ihre Tochter Linda identifiziert. Damit hatte die Leiche einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte bekommen.
    Linda Biggs, sechzehn Jahre alt, geboren am 8. Dezember 1991, wohnhaft im Londoner Stadtteil Islington. Abgebrochene Schullaufbahn. Keine Lehrstelle. Keine Arbeit.
    Es schien in Linda Biggs' Leben nicht allzu viele Perspektiven gegeben zu haben. Die enge Wohnung in einem sozial schwachen Viertel. Sieben Personen auf knapp achtzig Quadratmetern. Der Vater immer wieder arbeitslos. Die Mutter Alkoholikerin. Der älteste Bruder bereits mit dem Gesetz im Konflikt. Fielder wusste, dass es Jugendliche gab, die sich aus derartigen Konstellationen befreiten, aber es war die Minderzahl. Die meisten wurden in das soziale Elend hineingeboren, lebten darin und starben darin.
    Eine kleine Chance mochte es für Linda gegeben haben: Sie war ungewöhnlich attraktiv gewesen. Die Gene ihrer ausgesprochen unansehnlichen Eltern hatten sich in ihr aufs Günstigste vermischt und ein bildschönes Geschöpf ergeben. Woraus sie leider nichts zu machen verstanden hatte. Ihre Art, sich zu kleiden und zu schminken, hätte ihr nie den Aufstieg in eine andere gesellschaftliche Schicht ermöglicht. Es stimmte leider, was ihr Vater gesagt hatte: Sie war wie eine Prostituierte herumgelaufen.
    Hatte das ihren Mörder angezogen?
    Alle Biggs waren versammelt. Die Jungs waren still und verstört und offensichtlich nicht in der Lage, an einem solchen Tag zur Schule zu gehen. Auch Angela hatte in ihrer Arbeitsstelle angerufen und sich entschuldigt. Sie hatte verquollene, rote Augen. Sie musste die ganze Nacht geweint haben und wirkte völlig entkräftet.
    Gordon starrte die Wände an. Sally hatte eine Schnapsflasche vor sich stehen, hatte sich jedoch zumindest in Inspector Fielders Anwesenheit noch nicht daraus bedient. Sie legte nur hin und wieder die Hände fest um das Glas, als wolle sie sich vergewissern, dass es diesen Halt noch gäbe, wenn sie das Entsetzen nicht länger ertrug.
    Fielder hatte sein Beileid ausgesprochen, ohne darauf eine Reaktion zu bekommen, aber was sollten sie auch sagen. Nun räusperte er sich. Für sein Kommen an diesem Morgen hatte er sich bereits entschuldigt, und Sally hatte mit leiser, wie zerbrochen klingender Stimme gesagt: »Sie müssen Ihre Arbeit machen. Ist doch klar.«
    »Wir brauchen eine Aufstellung aller Freunde und Bekannten, mit denen Ihre Tochter Umgang hatte«, sagte er, »vor allem

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