Die Letzte Spur
beschmutzt. Als was stellst du sie denn hin? Als ein leichtsinniges Flittchen, das sich mit einem Kerl absetzt und den eigenen hilflosen Bruder im Elend zurücklässt? Die nicht einmal den Anstand hat, sich von dem armen Krüppel wenigstens zu verabschieden? Weißt du, was ich so obermies an dir finde? Du hast diesen Auftrag bekommen, weil du damit herumgeprahlt hast, Elaine seit frühester Kindheit so gut gekannt zu haben. Aber wer sie wirklich kennt, verstehst du, wer sie wirklich kennt, weiß, dass sie so etwas nie getan hätte. Dafür hatte sie viel zu viel Stil. Und Anstand. Charaktereigenschaften, die dir leider vollkommen fehlen, und deshalb …«
Rosanna mochte die beleidigenden Vorwürfe nicht länger hören. Sie tat, was Nick Simon wenige Momente zuvor getan hatte: Sie knallte den Hörer auf die Gabel.
»Mir reicht es«, sagte sie laut. »Nicht in diesem Ton und nicht um diese Uhrzeit.«
Das Telefon begann sofort wieder zu läuten, aber sie ignorierte es, stieg aus dem Bett und ging ins Bad hinüber. Sollte Geoffrey sich doch die Finger blutig wählen. Auch ein Mann mit seinem Schicksal konnte sich nicht alles herausnehmen. Sie hätte diesem Hysteriker nie ihr Hotel nennen, nie eine Telefonnummer geben sollen.
Geduscht, geföhnt und angezogen, fühlte sie sich besser. Sie konnte Nicks Unmut verstehen und sich sogar irgendwie in Geoffreys Kränkung hineinversetzen, aber in ihr blieb die Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Alles andere hätte ihr weniger Ärger eingebracht, aber sie hätte es nicht vor sich selbst verantworten können. Und letztlich war es wichtiger, zu der eigenen Überzeugung zu stehen, als es den Menschen ringsum um jeden Preis recht zu machen.
Als das Telefon erneut klingelte, fühlte sie sich gekräftigt und gewappnet für den nächsten Angriff. Sie meldete sich mit kräftiger Stimme.
»Ja? Hier spricht Rosanna Hamilton.«
»Hier ist Marc Reeve. Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an?«
»Oh – keineswegs. Um halb sieben hat mich bereits mein Chefredakteur angebrüllt, und kaum war er damit fertig, meldete sich Geoffrey Dawson und fuhr um noch ein paar Töne schärfer damit fort. Ich bin also hellwach. Wenn Sie mich jetzt auch anschreien wollen – bitte! Mich erschüttert heute nichts mehr!«
Reeve lachte leise. »Das war zu erwarten, oder? Ich meine, die Reaktion Ihres Chefs und die von Mr. Dawson!«
»Vermutlich. Aber aus dem Tiefschlaf kommend, trifft es einen doch recht unvermittelt.«
»Das tut mir leid. Aber ich werde Sie nicht anschreien, im Gegenteil. Ich wollte mich bedanken.«
»Wirklich?«, fragte Rosanna überrascht.
»Wirklich. Ich gebe zu, auch ich war gestern Abend zuerst entsetzt, als Sie unsere Gespräche erwähnten. Für einen Moment dachte ich… egal. Ich begriff sehr schnell, warum Sie es getan haben. Sie haben ein wunderbares Plädoyer für mich gehalten, und Sie haben Lee Pearce wirklich auflaufen lassen. Ich habe es genossen.«
Rosanna fühlte sich ganz unerwartet erleichtert. »Das freut mich. Wirklich, Mr. Reeve. Ich habe manchmal das Gefühl, die ganze Geschichte könnte mir entgleiten, aber solange Sie sich noch nicht schlecht behandelt von mir fühlen, scheine ich die Dinge im Griff zu haben.«
»Sie haben sich jedenfalls von Mrs. Pearce nicht einschüchtern lassen, und das hat mir gefallen. Sagen Sie«, fuhr er übergangslos fort, »hätten Sie Lust, irgendwo mit mir zusammen zu Mittag zu essen? Nachdem Sie gestern öffentlich versichert haben, mich nicht für einen Vergewaltiger und Mörder zu halten, kann ich es ja riskieren, Sie das zu fragen. Wir könnten aufs Land fahren und ein gemütliches Pub suchen. Es ist herrliches Wetter.«
»Ach ja?« Rosanna hatte noch nicht hinausgeschaut, die schweren Vorhänge waren noch immer vor die Fenster gezogen. »Das wäre schön. Doch, ich hätte größte Lust!«
Sie wusste, dass sie eigentlich hätte arbeiten müssen. Aber nach dem gestrigen Abend, nach all den herzlichen Begrüßungen am Morgen, nach dem tagelangen Regen hatte sie das Gefühl, dass ein Ausflug aufs Land an einem sonnigen Frühlingstag genau das war, was sie brauchte.
»Dann hole ich Sie um zehn Uhr in Ihrem Hotel ab«, sagte Marc Reeve.
2
Brent Cadwick war ratlos, was er tun sollte. Er hatte die ganze Nacht vor Aufregung nicht geschlafen und war schließlich um fünf Uhr aufgestanden, weil er es im Bett einfach nicht mehr aushielt. Es war noch ganz dunkel draußen gewesen. Er hatte sich einen Kaffee gekocht und
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