Die Letzte Spur
ein Brot gestrichen, aber er hatte kaum einen Bissen heruntergebracht. Zu vieles war ihm im Kopf herumgegangen.
Irgendwann dämmerte draußen der Tag. Er spähte durch sein kleines Wohnzimmerfenster, verrenkte ein wenig den Kopf und konnte ein Stück Himmel zwischen den Häusern hoch über der Gasse erkennen. Blauer Himmel. Es schien endlich einmal schönes Wetter zu herrschen.
Am Vorabend hatte es ihn wie ein Blitz getroffen. Eigentlich sah er sich die Sendung Private Talk nur selten an. Sie wurde viel zu spät am Abend ausgestrahlt, meist schlief er um diese Zeit schon, und die Themen, die dort behandelt wurden, interessierten ihn nicht besonders. Gestern jedoch war er beim Herumschalten zufällig bei Lee Pearce gelandet und zunächst einmal nur deshalb bei der Sendung hängengeblieben, weil er es komisch fand, dass die Moderatorin und ihr weiblicher Studiogast fast identisch angezogen waren. Beide Frauen waren darüber sicher alles andere als glücklich, und über derartige Missgeschicke konnte er sich, glucksend vor Vergnügen, amüsieren. Und dann war plötzlich der Name gefallen, der ihn elektrisierte, er hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und laut gesagt: »Also, das ist ja ein Ding!«
Elaine Dawson.
Sie sprachen in der Sendung über Elaine Dawson.
Vor knapp zwei Jahren war sie in sein Apartment – er nannte die Wohnung im ersten Stock gerne Apartment , weil das, wie er fand, sehr vornehm klang – eingezogen, an einem warmen, windigen Apriltag, und hatte sich ihm mit ihrer leisen Stimme vorgestellt. »Elaine. Elaine Dawson. Ich habe Ihr Inserat gelesen und wäre an der Wohnung interessiert.«
Da sie die Einzige war, die sich gemeldet hatte, waren sie schnell einig geworden. Er hatte sich ihren Ausweis zeigen lassen und eine Kaution von zwei Monatsmieten gefordert, die sie anstandslos bezahlt hatte. Sie hatte in einem Schuhgeschäft in einem Vorort von Morpeth gearbeitet, aber dann hatte sie diesen Job verloren und für einige Monate keinen Ersatz gefunden. Sie war in Zahlungsschwierigkeiten geraten und hatte ihn mit der Miete warten lassen. Trotzdem hatte er sie nicht hinausgeworfen. Gut, er hatte natürlich etwas Druck gemacht, verständlich, es ging ja um Geld, das ihm rechtmäßig zustand. Aber immerhin, sie hatte im Apartment bleiben dürfen, und endlich war da der Job im Elephant gewesen, und von da an hatte es keine Probleme mehr gegeben. Jetzt platzte er natürlich fast vor Wut. Großzügig war er gewesen, verständnisvoll. Immer wieder hatte er ihr seine Unterstützung bei all ihren Schwierigkeiten angeboten. Und was war der Dank? Abgehauen war sie. Verschwunden seit Donnerstag. Sang- und klanglos und ohne ein einziges Wort zu verlieren.
Das hatte ihn getroffen. Wirklich getroffen.
Normalerweise hätte er natürlich vermutet, dass sie einfach – endlich – einen Mann kennen gelernt hatte und sich ein paar vergnügte Nächte mit ihm machte. Sie war jung, es wurde Zeit, dass sie anfing, das Leben zu genießen. Aber er hatte es sich nicht verkneifen können, ein wenig im Apartment herumzustöbern, während sie fort war, und da war ihm das Fehlen all ihrer persönlichen Gegenstände sofort ins Auge gesprungen. Ihr Koffer war fort, der Kleiderschrank leer geräumt.
Minutenlang hatte er sprachlos in ihrem Schlafzimmer gestanden und zu begreifen versucht, was sich ihm als Erkenntnis aufzwang: dass sie ausgeflogen war und ganz offenbar nicht vorhatte, zurückzukommen. Und es nicht einmal für nötig befunden hatte, ihn darüber zu informieren.
Das große Foto an der Studiowand wurde leider zum Teil von den beiden davor sitzenden Frauen verdeckt, dennoch war er ganz dicht an den Fernsehapparat herangekrochen, um festzustellen, ob es sich um seine Elaine Dawson handelte. Denn natürlich konnte es den Namen öfter geben. Er wusste beispielsweise von einem Brent Cadwick, der nur ein paar Dörfer entfernt wohnte. Das Leben war voll seltsamer Zufälle.
Aber es könnte sein … Die dunklen, glatten Haare stimmten auf jeden Fall. Das Gesicht seiner Elaine war wesentlich schmaler als das des offenbar recht pummeligen Mädchens im Studio, aber wie er dem Gespräch der beiden Frauen entnahm, handelte es sich um eine Aufnahme, die mindestens fünf Jahre alt war. In fünf Jahren konnte eine Frau eine Menge Babyspeck verlieren und sich in einen anderen Typ verwandeln.
Atemlos hatte er die Sendung weiterverfolgt und dabei erfahren, dass Elaine Dawson offenbar vor nunmehr fünf Jahren spurlos
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