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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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herauskommender Mann prallt gegen sie, macht sie auf ihren Irrtum aufmerksam. Sie bricht in diesem Moment buchstäblich zusammen vor Weinen. Natürlich hätte er weitergehen können. Er kannte die Frau nicht, ihr Kummer ging ihn nichts an. Aber hätten Sie das getan?« Sie schaute ins Publikum. »Oder Sie? Oder Sie? Manche von uns nicht, manche sehr wohl. Wir beklagen die Kälte in unserer Gesellschaft. Keiner schert sich um den anderen. Aber heute Abend, und nicht erst heute, muss ein Mann, der sich genau diesem bedenklichen Trend widersetzte, erleben, wie er für seine Hilfsbereitschaft und für die freiwillige Übernahme von Verantwortung an den Pranger gestellt wird. Er hat die junge Frau mitgenommen. Zum Essen eingeladen. Sich die halbe Nacht lang ihre Probleme angehört. Sie in seinem Gästezimmer schlafen lassen und sie am nächsten Morgen sogar noch bis zur U-Bahn gebracht. Sich vergewissert, dass sie im richtigen Wagen sitzt. Und was macht die Presse dafür aus ihm? Mindestens einen Triebtäter. Einen Vergewaltiger. Und mehr noch, einen Mörder. Denn genau diese beiden Tatvorwürfe – Vergewaltigung und Mord – waren es, die mehr oder weniger subtil in der Presse immer wieder gegen ihn erhoben wurden. Und heute Abend zielen sämtliche Fragen ebenfalls in diese Richtung. Ich muss sagen, eine bessere Politik der Abschreckung für jeden, der gelegentlich erwägt, sich hilfsbereit zu zeigen, ist kaum denkbar.«
    Sie hielt inne. Sie konnte spüren, dass das Publikum mitging. Sie hatte die Leute erreicht.
    »Sie vergessen einen nicht ganz unwesentlichen Fakt«, sagte Lee spitz. Sie lächelte jetzt nicht mehr. »Elaine Dawson ist seit jener Nacht verschwunden. Spurlos. Sie folgte Marc Reeve in dessen Haus und ward nie mehr gesehen. Legt dies nicht gewisse Schlüsse nahe? Auch dann, wenn man, wie Sie offensichtlich, dem Charme und der Redekunst eines attraktiven Anwalts restlos verfallen ist?«
    Rosanna nahm die letzte Provokation nicht an. »Sie sprechen von Schlüssen. Es hat aber in den Medien immer nur einen Schluss gegeben. Tatsächlich sind verschiedene Möglichkeiten denkbar.«
    »Und die wären?«
    »Ich weiß beispielsweise, dass es einen Mann in Elaines Leben gab. Aufgrund der besonderen Umstände, die sich vor allem aus ihrem Verpflichtungsgefühl gegenüber ihrem Bruder ergaben, hielt sie diese Beziehung völlig unter Verschluss. Ich weiß auch, dass Elaine aus ihrem Leben ausbrechen wollte. Aus Gründen, die niemanden etwas angehen, die mir, als einem Menschen, der sie seit frühester Kindheit gekannt hat, aber sehr einleuchten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie die Chance, die ihr diese Reise und ihr unerwarteter Verlauf boten, ergriffen hat.«
    »Das heißt?«
    Rosanna blickte direkt in die Kamera. »Ich bin überzeugt, dass Elaine lebt«, sagte sie, »und dass sie untergetaucht ist. Vielleicht hält sie sich noch in England auf, vielleicht auch nicht. Aber sie lebt. Niemand sollte sie für tot erklären, nur weil sie sich die Freiheit genommen hat, über ihr weiteres Leben selbst zu bestimmen.«
    Sie schaute ins Publikum, ignorierte Nick Simons wütenden Blick.
    »Vielleicht will sie einfach in Ruhe gelassen werden«, fügte sie hinzu, »und eigentlich könnte sie erwarten, dass wir alle diesen Wunsch respektieren. Auch und gerade die Presse.«
    Das Publikum klatschte heftig Beifall.
    Und mir entzieht Nick nachher den Auftrag, dachte sie.

Samstag, 16. Februar
     
    1
     
    »Du warst unmöglich gestern Abend«, sagte Nick wütend, »absolut unmöglich. Du hast dich aufgeführt wie eine Anwältin vor Gericht. Wie Marc Reeves Anwältin!«
    Rosanna saß noch etwas benommen in ihrem Hotelbett. Das Telefon hatte um halb sieben morgens geklingelt und sie aus tiefem Schlaf gerissen. Sie hatte geahnt, dass es Nick war, der sie anrief. Am Vorabend hatte sie nach Ablauf der Sendung vergeblich nach ihm Ausschau gehalten. In seinem Ärger war er einfach nach Hause gegangen, ohne noch ein einziges Wort mit ihr zu wechseln.
    Dafür redete er jetzt umso mehr.
    »Wie du Mrs. Pearce angegriffen hast! Und in gewisser Weise die ganze Sendung. Auch unser eigenes Blatt im Übrigen. Du bist über die Art von Journalismus hergefallen, für den Private Talk und Cover nun einmal stehen. Ich frage mich, was du dir dabei gedacht hast!«
    »Nick, ich …«
    »Wir sollen Elaine Dawson in Ruhe lassen! Ich meine, merkst du nicht selbst, wie absurd das wirken muss? Du hast den Auftrag, eine Geschichte über sie zu

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