Die Letzte Spur
eher springe sie nackt von der Tower Bridge, als noch ein einziges Mal das dunkle Gebäude zu betreten, in dem sie ihrer langweiligen Tätigkeit nachgegangen war. Angela erinnerte sich an den Riesenkrach, den es deswegen daheim gegeben hatte; Gordon hatte gebrüllt und getobt, aber Linda war standhaft geblieben.
Auch Angela hatte ihrer Schwester damals Vorhaltungen gemacht. In diesem Punkt waren sie grundverschieden gewesen. Angela vertrat die Auffassung, dass jede Arbeit besser war als keine Arbeit und dass man im Leben Durststrecken durchzustehen hatte. Linda argumentierte, man habe nur dieses eine Leben und sie sei nicht gewillt, es sich vermiesen zu lassen.
Ein berührender Ausspruch im Nachhinein. Man hatte ihr nun ihr Leben nicht einfach nur vermiest. Man hatte es ihr genommen.
Angela dachte, dass sie sicher nicht zufällig ausgerechnet hier gelandet war. Sosehr sie sich bemühte, an etwas anderes zu denken, Linda war einfach in ihrem Kopf. Sie hatte ihre Schwester damals häufig an der Werkstatt abgeholt, auf dem Heimweg von der Gärtnerei. Manchmal waren sie zu der Chips-Bude schräg gegenüber gegangen und hatten sich einen Hot Dog gekauft. Linda hatte über die Arbeit geschimpft. An Sommerabenden war es schön gewesen, nebeneinander die Straße entlangzugehen.
Sie hob die Hand, wischte eine Träne aus den Augenwinkeln. Die Chips-Bude gab es noch, wie sie feststellte.
»Scheiße«, sagte sie laut, »einfach Scheiße!«
Ein Schatten tauchte plötzlich neben ihr auf, und eine Stimme sagte: »Bist du nicht Lindas Schwester?«
Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein großes, dünnes Mädchen im blauen Arbeitsanzug, eine Baseballmütze auf den rotblonden Haaren. Sie roch leicht nach Motoröl.
»Doch«, fuhr sie fort, »du bist doch Angela Biggs?«
Angela zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und schnäuzte sich kräftig, ehe sie antwortete.
»Ja«, sagte sie dann, »ich bin Lindas Schwester.«
»Dawn Sparks«, sagte das Mädchen, »ich mache hier eine Ausbildung zum Mechaniker.« Sie wies auf die Werkstatt. »Ich hab dich hier stehen sehen, und da dachte ich … na ja, ich wollte dir sagen, mir tut es verdammt leid, was mit Linda passiert ist. Ehrlich, ich konnte es zuerst gar nicht glauben. Als ich das in der Zeitung gelesen habe … o Gott, mir ist es kalt den Rücken hinuntergelaufen. Wer macht denn so etwas?«
Sie sah Angela fragend an.
»Ich weiß es nicht«, sagte Angela.
»Ich habe mich gut mit Linda verstanden. Sie war ja total unglücklich hier und hat dauernd gejammert, aber ich fand sie nett. Ich fand's schade, als sie aufhörte.«
»Ich auch«, sagte Angela, »die ganze Familie. Wir waren so froh, dass sie einen Job hatte. Aber…« Sie hob hilflos die Arme zum Zeichen, dass es in mancher Hinsicht keinerlei Einflussmöglichkeit auf Linda gegeben hatte.
»Das hier war wohl nicht das Richtige für sie«, meinte Dawn, »sie hatte andere Vorstellungen von ihrem Leben.«
»Ich glaube eher«, sagte Angela, »dass sie ihre eigenen Vorstellungen noch gar nicht richtig kannte. Das war ihr Problem. Aber sie war ja auch noch so jung. Sie wollte einfach leben. Einfach nur leben …«
Die beiden jungen Frauen schwiegen. Sie sahen Linda vor sich, die lebendige Linda, mit ihrem hübschen Gesicht, ihrer freizügigen Kleidung, dem lauten Lachen, der wilden Fröhlichkeit. Es schien kaum vorstellbar, dass sie, auf grässliche Art verstümmelt, im Keller der Gerichtsmedizin lag und auf Spuren untersucht wurde, die Aufschluss über den Menschen geben sollten, der ihr das Leben genommen hatte.
»Wie gesagt, ich mochte Linda«, fuhr Dawn schließlich fort, »aber jetzt zuletzt machte ich mir auch ein bisschen Sorgen um sie. Ich meine, sie ist … war ein Mensch, der nicht so gut auf sich selber aufpasste. Bestimmte Warnsignale schien sie einfach nicht wahrzunehmen. Spätestens seit ich sie mit ihrem neuen Freund gesehen hatte, hatte ich ein ausgesprochen ungutes Gefühl, aber …«
Angela, die ein wenig geistesabwesend zugehört hatte, zuckte zusammen. Sie starrte Dawn an. »Was meinst du? Welcher neue Freund?«
»Sie hatte doch einen neuen Freund. Jedenfalls war sie mit einem Typen unterwegs.«
»Du meinst nicht Ben Brooks?«
»Nein. Den kannte ich ja. Der hat sie hier manchmal abgeholt. Bei dem hätte sie übrigens bleiben sollen. Der war richtig nett.«
»Aber wer war es dann? Wir wussten nichts von einem neuen Freund.«
Dawn schien überrascht. »Nicht? Vielleicht war sie sich nicht so ganz
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