Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
befragt und damit irgendwie zur Rechtfertigung gezwungen fühlte. Er hatte diese Verabredung von sich aus erbeten. Seit der Fernsehsendung vom Vorabend schien er sich nicht mehr wie ein gehetztes Tier zu fühlen.
    Dabei, dachte Rosanna, bin es bislang immer noch ausschließlich ich, die für ihn in die Bresche springt. Ob das irgendeine Wirkung zeigt, wird sich erst später herausstellen.
    Er hatte ein bisschen von sich erzählt während der Fahrt. Davon, dass er ein begeisterter Wassersportler gewesen war, ein eigenes Motorboot besessen hatte.
    »Im Yachthafen von Wiltonfield. Sehr ländlich und idyllisch. Ich bin oft auf der Themse gefahren.«
    »Jetzt nicht mehr?«
    Er hatte den Kopf geschüttelt. »Nach der Trennung von meiner Frau habe ich ihr das Schiff überlassen. Wir beide im selben Yachtclub – das ging ganz einfach nicht. Es machte so mehr Sinn: Sie lebt jetzt in Binfield Heath, das ist dort ganz in der Nähe, und mir fehlt die Zeit, mich regelmäßig um ein Boot zu kümmern.«
    »In Ihrem Leben hat sich vieles verändert, nicht? Nick erzählte, dass Sie auch in Ihrem Haus von damals heute nicht mehr wohnen.«
    »Das wurde verkauft, ja. Es war viel zu groß für mich allein. Ich habe jetzt eine Wohnung in Marylebone.«
    »Und dort besucht Sie Ihr Sohn an den Wochenenden?«
    Das war der einzige Moment gewesen, an dem ein unsichtbarer Vorhang vor Reeves Gesicht glitt und seine Züge sich verschlossen. »Nein«, hatte er knapp erwidert, »mein Sohn hat keinen Kontakt mehr zu mir.«
    Die Art, wie er dies sagte, verbot es Rosanna, weiter nachzufragen. Sie hätte gern gewusst, ob Marc Reeves Sohn den Kontakt abgebrochen hatte wegen Elaine Dawson oder wegen der Scheidung seiner Eltern. Vielleicht leitete sich sein Verhalten von einem übermäßigen Solidaritätsgefühl mit seiner Mutter ab. Möglicherweise hetzte die Mutter auch gegen den Vater. Rosanna hatte jedenfalls den Eindruck, den wundesten Punkt in Marc Reeves Leben berührt zu haben.
    Das Pub hieß The Duke of Wellington und war fast völlig leer. Nur ein älteres Paar saß in einer Ecke, schwieg verbissen und betrachtete die Neuankömmlinge mit unverhohlener Neugier.
    »Die haben sehr gutes Essen hier«, sagte Marc. »Meine Schwiegermutter war hier in der Gegend in einem Pflegeheim untergebracht, und hin und wieder habe ich Jacqueline – meine Frau – dorthin begleitet. Daher kenne ich mich in der Ecke ein wenig aus.«
    Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, wagte Rosanna noch einen Vorstoß in das heikle Thema. »Wie alt ist Ihr Sohn?«, fragte sie vorsichtig.
    »Er wird jetzt am ersten März fünfzehn«, sagte Marc.
    »Und selbst an seinem Geburtstag sehen Sie ihn nicht?«
    »Nein.«
    »Nun, das ist …«
    »Rosanna«, sagte Marc, »ich darf Sie doch Rosanna nennen? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich möchte nicht über Josh sprechen. Es war an seinem neunten Geburtstag, am ersten März 2002. Als ich abends aus der Kanzlei kam, waren er und meine Frau ausgezogen, ohne mir eine Anschrift zu hinterlassen. Als Nächstes bekam ich den Scheidungsantrag von der Anwältin meiner Frau zugestellt, dazu ein Schreiben, dass man mir juristisch natürlich ein Umgangsrecht mit Josh nicht verwehren könne, dass der Junge sich aber vehement weigere, mich zu sehen oder zu sprechen. Bis auf eine einzige sehr unerfreuliche Begegnung kam es dann tatsächlich zu keinem Kontakt mehr. In dieser Konstellation muss ich seit sechs Jahren leben, und es geht mir besser, wenn ich das alles nicht thematisiere.«
    »Ich verstehe das. Aber, verzeihen Sie – warum haben Sie das sechs Jahre lang hingenommen? Ich meine …«
    »Es gab jede Menge Bemühungen von meiner Seite, natürlich. Aber daraufhin bekam ich ärztliche Bescheinigungen zugeschickt, denen zufolge Josh mit Neurodermitis auf jeden Gedanken an eine Begegnung mit mir reagiere. Was soll man da noch tun? Beharrlichkeit zeigen? Sich über all das hinwegsetzen? Das wollte ich nicht.« Er schob den Salzstreuer hin und her, blickte aus dem Fenster in den strahlenden Vorfrühlingstag hinaus. »Ein unerfreuliches Thema «, sagte er.
    Sie nickte. Sie spürte, dass sie keine weitere Frage stellen durfte, sie war ohnehin recht weit gegangen, und sie mochte das fragile erste Vertrauen, das sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht in Gefahr bringen. Immerhin wusste sie nun, dass das Problem, das Marc Reeve mit seinem Sohn hatte, nicht von der Geschichte um Elaine Dawson herrührte. Die Tatsache, dass sein

Weitere Kostenlose Bücher