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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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wollte nach England. Nicht bloß zum Geburtstag meines Vaters. Sondern für ein paar Wochen. Ich hatte eine so überwältigende Sehnsucht, dass ich…« Sie beendete den Satz nicht, schaute zur Seite. Sie kannte Marc Reeve kaum. Warum erzählte sie ihm das alles?
    »Und, ist es so?«, fragte er. »Ist es so, wie es in Ihrer Erinnerung war? Erfüllen sich Ihre Sehnsüchte?«
    Sie atmete tief durch. »Ja. Ich hätte selber gewünscht …«
    »Was?«
    »Ich hätte selber gewünscht, dass es nicht so wäre. Ich dachte, vielleicht habe ich alles idealisiert. Mich in Bilder und Erinnerungen hineingesteigert, die so überhaupt nicht stimmen. Ich dachte, vielleicht merke ich in den Wochen hier, dass es gar nicht so viel besser ist als Gibraltar, und dann fliege ich zurück und habe meinen Frieden. Das wäre schön gewesen.«
    »Und jetzt finden Sie es doch besser als Gibraltar?«
    Sie schaute sich um. Das alte Pfarrhaus. Der noch kahle Garten, dessen Bäume im Sommer schwer sein mochten unter der Last ihrer Früchte. Die kleinen Häuser entlang der Straße. Die milde Luft. Es war ein bisschen wie Kingston St. Mary. Aber das allein war nicht entscheidend. In den letzten Tagen war das Wetter kalt und grau und nass gewesen, typischer, trostloser Februar, und sie war mitten in London gewesen, nichts hatte geblüht, und kein Sonnenstrahl hatte sich zwischen den tief hängenden Wolken gezeigt. Und trotzdem war dieses Gefühl da gewesen. Das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Dort zu sein, wohin sie gehörte.
    »Es geht gar nicht so um besser oder schlechter«, sagte sie, »ich glaube, es geht einfach darum, ob man an einen Ort passt oder nicht. Ich passe nicht nach Gibraltar. Das heißt nicht, dass ich nur nach England passe. Vielleicht könnte man mich nach Südafrika setzen. Oder nach Kanada oder nach Indien. Ich weiß nicht. Aber Gibraltar … das passt einfach nicht.«
    »Eine schwierige Situation. Ihr Mann und Ihr Stiefsohn sind dort.«
    »Ich weiß. Und ich gehöre zu ihnen. Aber am liebsten würde ich einfach hierbleiben. Hier, an diesem Ort, auf diesen Steinen in der Sonne sitzend. Mich überhaupt nicht mehr fortbewegen.«
    »Darauf haben Sie eine echte Chance«, meinte Marc, »denn vermutlich sitzen wir hier noch Stunden herum und warten auf irgendeinen Wichtigtuer, der nicht im Traum daran denkt, sich je wieder zu melden. Bis heute Abend haben Sie es satt, das verspreche ich Ihnen. Auf die Dauer sind diese Steine ganz schön hart.«
    Sie sahen einander an und mussten beide lachen, und mitten in dieses befreiende Lachen hinein klingelte das Telefon.
    Marc verstummte, seine Lippen wurden schmal. »Vielleicht ist er das.«
    Rosannas Stimme klang vor Aufregung etwas rau, als sie sich meldete. »Ja? Hier Rosanna Hamilton.«
    Vom anderen Ende der Leitung kam ein längeres Schweigen. Dann ein nervöses Atmen. Und dann sagte die heisere Stimme eines alten Mannes: »Hier ist Brent Cadwick. Brent Cadwick aus Langbury, Northumberland.«
    »Mr. Cadwick!«, sagte Rosanna.
    Er schwieg erneut. Es war der Moment seines Lebens. Er zitterte vor Nervosität.
    »Ich … habe Informationen«, brachte er schließlich heraus, »Informationen, Elaine Dawson betreffend.«
    »Elaine Dawson ist am Leben?«, fragte Rosanna.
    Wieder kurzes Schweigen. Mr. Cadwick war aufgeregt, und er war es zudem nicht gewöhnt, sich zu unterhalten. Schon gar nicht am Telefon mit einem wildfremden Menschen.
    Dann ein Lachen. Ein kehliges, irgendwie unechtes Lachen, dessen Auslöser Rosanna nicht begriff. Was gab es zu lachen?
    »Sie ist am Leben«, sagte Brem Cadwick, »und wie die am Leben ist!« Und er lachte erneut.
     
    6
     
    Bis zum Mittag war Dennis Hamilton völlig verzweifelt. So verzweifelt, dass er sogar bereit gewesen wäre, all die Sanktionen, die er sich bereits ausgedacht, zurechtgelegt und ausgeschmückt hatte, über Bord zu werfen und seinen Sohn einfach nur voller Erleichterung und Liebe in die Arme zu schließen.
    Wenn sein Sohn da gewesen wäre.
    Dennis hatte natürlich damit gerechnet, dass Rob versuchen würde, sich über das Verbot, am Freitagabend an der Abschlussparty teilzunehmen, hinwegzusetzen, und er hatte dem vorbauen wollen. Er war am Freitag erneut bereits am Nachmittag aus dem Büro gegangen, obwohl sich die Arbeit auf seinem Schreibtisch fast bis zur Decke stapelte, um Rob auf jeden Fall daheim abzufangen. Er hatte sich überlegt, noch einmal in aller Ruhe mit ihm zu reden, ihm seinen Standpunkt darzulegen und um sein

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