Die Letzte Spur
Verständnis dafür zu werben. Er war allerdings auch entschlossen gewesen, Rob notfalls in seinem Zimmer einzuschließen, wenn er darauf beharren sollte, an dem Saufgelage – denn so titulierte Dennis insgeheim die Veranstaltung – teilzunehmen.
Doch dann hatte er vergeblich gewartet. Rob war ihm einen Schritt voraus: Er kam am Freitag einfach überhaupt nicht nach Hause.
Hielt sich vermutlich in der Schule oder bei einem Klassenkameraden auf und dachte nicht daran, das Risiko einzugehen, am Ende bei seinem Vater hängenzubleiben und den Abend daheim verbringen zu müssen.
Dennis hatte gewartet, obwohl ihm klar gewesen war, dass Rob nicht auftauchen würde, und mit jeder Minute war seine Wut gewachsen. So ging das nicht. So konnte sich ein Sechzehnjähriger nicht benehmen. Selbst Rosanna, die ja immer für ihn in die Bresche sprang, musste das einsehen. Diesmal würde es ernste Konsequenzen geben. Ausgangssperre für mindestens acht Wochen. Taschengeldentzug für die nächsten drei Monate. Ebenso wie Computerverbot, was noch zusätzlich den Vorteil hätte, dass er eine Pause von seinem ewigen World of Warcraft machen müsste. Und wann hatte er eigentlich zuletzt in Haus und Hof mitgeholfen? Den Frühling würde er jedenfalls mit Unkrautzupfen und Blumengießen verbringen. Das Verandageländer musste neu gestrichen werden. Und ja, hatte er sich nicht gewünscht, im Sommer einmal mit Rosanna nach England zu reisen? Diesen Plan konnte er selbstverständlich abhaken.
Dennis war durch alle Zimmer gelaufen. Zweimal hatte er versucht, seinen Sohn auf dessen Handy zu erreichen, aber erwartungsgemäß war es abgeschaltet. Er hatte zwei Whisky auf Eis getrunken, um sich zu beruhigen, aber er hatte nichts essen können. Wenn nur nichts passierte! Zwei Jahre zuvor war eine ähnliche Abschlussparty mit viel Wirbel durch die Presse gegangen, weil zwei Schüler nach Spanien hinübergefahren waren, sich übel betrunken hatten und nach einer wilden Fahrt an einem Brückenpfeiler gelandet waren. Der eine war sofort tot gewesen. Der andere würde für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Dennis hatte damals alle Zeitungsberichte ausgeschnitten und auf Robs Schreibtisch gelegt. Er hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber Rob hatte desinteressiert gewirkt. Er bezog die Geschichte nicht auf sich. Shit happens . Warum sollte er sich deshalb in seiner Lebensfreude bremsen lassen?
Irgendwann ging Dennis ins Bett, und da er kaum Alkohol gewohnt war, tat der Whisky rasch seine Wirkung: Er schlief sehr schnell ein, verbrachte die Nacht in tiefem, traumlosem Schlaf und wachte am Samstagmorgen um kurz nach sieben Uhr auf. Überzeugt, Rob in seinem Zimmer vorzufinden, stand er auf und ging hinüber, spähte durch die Tür. Das Bett war leer, und es war offensichtlich unberührt.
Okay. Das musste nicht heißen, dass etwas passiert war. Wahrscheinlich hatte sich Rob so mit Alkohol zugeschüttet, dass er nicht mehr nach Hause gekommen war. Die ganze Gesellschaft hing vermutlich in der Aula herum, eine Horde von Bierleichen, verkatert, von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt, zu sehr mit ihrem Brechreiz beschäftigt, um wenigstens daheim anrufen und Bescheid sagen zu können.
Mit sechzehn! Mit sechzehn hätte er, Dennis, sich das einmal trauen sollen!
Er hatte Angst. Angst um seinen Sohn. Er bemühte sich, die Angst unter Kontrolle zu halten, sich nicht wie eine hysterische Mutter aufzuführen. Nur Mütter drehten bei solchen Geschichten durch und malten den Teufel an die Wand. Väter fanden, dass ein richtiges Besäufnis dazugehörte, wenn ein Junge auf dem Weg war, ein Mann zu werden. So, wie es dazugehörte, eine Nacht lang wegzubleiben und vielleicht auch mit dem Auto ein wenig zu schnell herumzurasen. Wollte man denn ein Weichei daheimsitzen haben?
Warum kann ich nicht so empfinden?, fragte sich Dennis, während er in der Küche stand, einen Kaffee trank und hinaus in den leuchtenden Morgen blickte, warum kann ich nicht ein ganz normaler Vater sein, der sich nicht allzu viele Sorgen macht und die Dinge nicht so eng sieht?
Vielleicht war man kein normaler Vater, wenn man zu lange Vater und Mutter in einer Person hatte sein müssen. Wenn über Jahre alle Verantwortung nur bei einem selbst gelegen hatte. Kein zweites Paar Schultern, auf die man etwas hätte abladen können. Keine zweite Meinung, die man hätte einholen können, jedenfalls nicht die eines ebenfalls in allen Konsequenzen verantwortlichen Menschen. Und
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