Die Letzte Spur
zugleich stets das hilflose Gefühl, bei allem Bemühen den Bedürfnissen des kleinen Menschen, den man in die Welt gesetzt hatte, doch nicht völlig gerecht zu werden. Er hatte gespürt, wie sehr Rob eine Mutter vermisste. Er hatte sie ihm nicht ersetzen können.
Und Rosanna war spät zu ihnen gestoßen. Engagiert und mit großer Wärme hatte sie sich auf Rob eingelassen. Und doch … Dennis meinte besonders während der letzten zwei oder drei Jahre zunehmend Signale von ihr aufgefangen zu haben, die darauf hindeuteten, dass sie begann, wieder auf Abstand zu der kleinen Patchworkfamilie, deren Teil sie war, zu gehen. Sich irgendwie innerlich zurückzuziehen. Ihre Gedanken schweiften in Richtungen, deren Ziele er nicht kannte. Sie schien Bilder zu sehen, die außer ihr niemand sah. Tagträumen nachzuhängen, die sie mit niemandem teilen mochte. Und hatte nicht auch Rob diese Veränderung gespürt? Hätte er sonst neulich seine Angst in so deutlichen Worten herausgeschrien? Sie kommt nicht wieder! Kapier es doch endlich!
Und er hatte noch etwas gesagt. Sie ist vor dir geflüchtet. Du hast sie davongejagt!
Er mochte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Diese Gedanken waren zu beängstigend und führten am Ende in eine Selbstbespiegelung und Eigenanalyse, zu der er sich im Augenblick nicht fähig fühlte.
Er beschloss zu duschen, sich anzuziehen, zum Einkaufen zu fahren und dann auf dem Rückweg an der Schule zu halten und Rob aufzusammeln. Und zu versuchen, mit ihm zu reden. Ihn auf gar keinen Fall anzuschreien.
Als er am späteren Mittag wieder daheim ankam, hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich völlig erschöpft. Er stellte den Einkaufskorb in die Küche, war aber zu ausgelaugt, die Lebensmittel auszupacken und in den Kühlschrank zu räumen. Er hatte alles abgesucht. Er wusste nicht, wo er noch nachsehen sollte.
In der Schule war überhaupt niemand mehr gewesen. Jedenfalls keine Schüler. Ein Putzkommando war dabei, die ziemlich verwüstet wirkende Aula aufzuräumen.
»Hier war schon heute früh um sieben niemand mehr«, erklärte eine junge Spanierin, die einen großen blauen Müllsack hinter sich herschleifte, auf Dennis' irritierte Frage, »in den frühen Morgenstunden ziehen die doch immer noch irgendwo anders hin. Kneipen, Bars, Diskotheken drüben in Spanien… was weiß ich!«
Was weiß ich!
Er hatte sich sehr konzentrieren müssen, um sich wenigstens an die Adressen der beiden besten Freunde seines Sohnes zu erinnern, und war dann dort vorbeigefahren.
Der eine von ihnen lag noch im Bett und schlief, wurde aber von seinen Eltern geweckt. Er war überhaupt nicht bei der Party gewesen und konnte demzufolge auch keine Auskunft geben.
»Ich durfte ja nicht hin«, sagte er mit wütendem Blick auf seine Mutter.
»Rob auch nicht«, sagte Dennis müde. Offenbar gab es junge Leute, die sich nach den Wünschen ihrer Eltern richteten. Sein Sohn gehörte leider nicht dazu.
Der andere Junge, Harry, war zwar bei der Party gewesen, hatte sie aber noch vor Mitternacht verlassen und Rob dort nicht angetroffen.
»Er war gar nicht da?«, fragte Dennis fassungslos und wusste nicht, ob er das erfreulich oder besonders beängstigend finden sollte.
»Das weiß ich nicht«, erklärte Harry, »ich habe ihn nicht gesehen, aber das besagt gar nichts. Es war rappelvoll, und es waren tausend Leute da, die, glaube ich, gar nicht zur Schule gehörten. In dem Gewühl konnte man sich kaum bewegen und niemanden entdecken, der nicht zufällig direkt neben einem stand. Deshalb bin ich ja auch ziemlich früh wieder gegangen. Es war echt blöd da!«
»Und wohin Rob direkt nach Schulschluss ging, weißt du das? Er war nämlich scheinbar überhaupt nicht daheim.«
Harry zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich. Er ging in dieselbe Richtung fort wie immer. Ich dachte, er will nach Hause.«
»Und habt ihr über die Party gesprochen? Hat er gesagt, dass er hingehen möchte?«
Harry überlegte. »Ich glaube, er hat gesagt, dass er es noch nicht weiß.«
»Und du hast wirklich keine Ahnung, wo er jetzt stecken könnte?«
»Nein. Ehrlich nicht.«
Dennis hatte sich niedergeschlagen und besorgt auf den Heimweg gemacht, hoffend, dass er Rob zu Hause antreffen würde. Aber Rob war nicht da. Keine Musik aus seinem Zimmer. Kein flimmernder Computerbildschirm. Keine Schultasche, die als Stolperfalle mitten im Flur lag, achtlos dort hingeschleudert trotz tausendfach geäußerter Bitte, sie wegzuräumen. Dennis hätte sich
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