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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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wollte schon Schwester Maria wecken...«
    »Lassen Sie sie schlafen. Haben Sie
noch eine Taschenlampe?«
    Sie holte eine schmalbrüstige Stablampe
aus dem Visitenkörbchen. Ich knipste sie an. Es war eine von denen, womit man
den Patienten in den Hals gucken sollte und sich freute, wenn der Strahl bis
zum Zäpfchen reichte.
    »Bleiben Sie hier«, sagte ich, »ich
sehe nach ihr.«
    Ich merkte, wie sie mir bewundernd
nachstarrte, aber dadurch wurde mir nicht wohler. Als ich die untere Tür hinter
mir geschlossen hatte und hinter dem beklagenswerten Lichtkegel den Weg
entlangstolperte, breitete sich trotz der Wärme ein sanftes Kältegefühl über
meinen Oberkörper. Irgendwas mußte nicht in Ordnung sein.
    Vom Haus her kam der Lichtschein aus
dem Untersuchungszimmer. Ich sah Inges Gestalt am Fenster. Meine Funzel zog die
Begleitmücken an. Ich knipste sie aus. Meine Übung, schnell in der Dunkelheit
zu sehen, begann sich zu bewähren. Im Wald sah ich schon so, daß ich jede
Wurzel erkennen konnte und gegen keinen Baum anrannte. Und vielleicht — so
unangenehm der Gedanke erschien — war es besser, wenn mich keiner von weitem
her ausmachen konnte.
    Unter dem Hemd bildete sich Schweiß.
Das Frösteln war weg, nur die Angst nicht und die Anstrengung, die es kostete,
um sie zu überwinden. Schwierig, ein Ritter zu sein.
    Jetzt erreichte ich den Waldrand und blieb
stehen. Die dunkle Masse des Sockels und des Turmes hob sich in die Luft. Es
war, als sagte sie Halt.
    Es gab kein Zurück. Jeder blamiert
sich, so gut er kann. Ich ging langsam weiter. Nichts regte sich am Turm. Ich
bohrte die Röntgenaugen mit aller Macht durch die Dunkelheit, aber ich sah nur
die Steine und die Spitzbogenfenster.
    Keine Spur von Anna.
    Wenn sie nicht irgendwo im Wald war,
konnte sie nur in der Pumpenkammer sein.
    Schritt für Schritt schob ich mich um
den Sockel. Ich konnte jetzt schon sehen wie eine Nachteule und hätte einen
Unbefugten auf drei Meter erkannt. Es kam keiner. Trotzdem blieb ich mit einem
Ruck stehen, als ich die Hinterfront erreicht hatte.
    Die Tür zur Pumpenkammer stand weit
offen. Ein rötlicher Lichtschein fiel heraus über das Gras, als wäre es blutig.
Kein gutes Vorzeichen. Da drin war was passiert.
    Ich nahm meine Lampe in die rechte
Faust. Es war nicht gerade ein Ersatz für einen Trommelrevolver, und ich war
auch nicht der Meister aller Klassen, aber es mußte reichen.
    Dann war ich mit ein paar Sätzen an der
Tür.
    Ich erschrak weniger, als ich
befürchtet hatte. Wohl, weil ich längst zu sehen erwartet hatte, was ich jetzt
sah.
    Das Licht kam aus Annas Taschenlampe,
die zu Boden gefallen war und nur noch schwach brannte. Vor dem Schaltbrett,
das ihre Hand nicht mehr berührt hatte, lag Anna mit ausgebreiteten Armen auf
dem Gesicht. Es war tief in den Sandboden gedrückt.
    Ein schwerer, scharfkantiger Stein
hatte ihren Hinterkopf zerschmettert und lag halb auf ihrer Schulter. Elend schwer
für den armen Körper.
     
     
    Ich ging um sie herum zur Schalttafel,
so daß ich die Tür im Auge hatte. Dann blickte ich nach oben und richtete meine
Taschenlampe zur Decke.
    Das Lukenglas glitzerte hinterhältig.
Die Luke war geschlossen. Aber ich konnte erkennen, daß von den Steinen der
Einfassung einer herausgebrochen war. Der, der Anna getroffen hatte.
    Ich kniete nieder, achtete weiter auf
die Tür und sah zu, daß ich nicht genau unter der Luke war. Dann faßte ich
Annas Handgelenk und tastete nach dem Puls. Nichts mehr. Was da klopfte, war
mein Blut in den eigenen Fingerspitzen. Der Strahl meiner Lampe traf Annas
rechtes Auge. Die Pupille blieb starr. Das Gesicht war kaum verzerrt, aber es
war ein verkniffener, fast höhnischer Zug darin, als hätte sie in der Sekunde
des Todes die Gewißheit erlangt, doch recht gehabt zu haben.
    Ich griff nach Annas Taschenlampe und
stellte mich langsam aufrecht. Das Schaltbrett war neben mir, der Doppelstrahl
beider Birnen fiel darüber hin. Der große Hebelschalter zwischen den Sicherungen
stand in Mittelstellung auf ›Aus‹.
    Ich überlegte, wie er dahin gekommen
sein könnte. Vielleicht war in das Ding ein Relais eingebaut, das bei
Überlastung abschaltete und den Schalter zurückspringen ließ. Es gab auch eine
andere Möglichkeit.
    Mit der Rechten zog ich mein
Taschentuch heraus, faßte damit den Schalter und klappte ihn nach oben. Es
schnappte kurz hinter der Schalttafel. Dann fing der Motor an zu summen.
Bläuliche Funken sprangen um den Kollektor. Die Pumpe lief. Gut, daß

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