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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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ich meinen
Wasserhahn abgedreht hatte.
    Vorsichtig ging ich an Anna vorbei und
hinaus. Ich berührte die Tür nicht, ging weiter um den Sockel herum bis zur
Treppe. Zuviel Neugier hatte schon manchem geschadet, aber ich war einmal hier
und wollte es genau wissen. Ich ging zu der Luke über dem Pumpenraum und
öffnete sie vorsichtig, wieder mit dem Taschentuch. Obwohl meine Funzeln in den
letzten Zügen lagen, konnte man deutlich erkennen, wie der Stein
herausgebrochen war. Ich fühlte brüchigen Zement, knochentrocken und locker.
    Die Steine saßen allesamt nicht fest
und wackelten wie südamerikanische Regierungen. Auch hier zwei Möglichkeiten. Entweder
war der Stein per Zufall heruntergefallen, als Anna darunterstand und die Pumpe
einschalten wollte. Oder nicht per Zufall.
    Meine Hand mit dem Taschentuch schloß
die Luke. Ich wandte mich um zur Turmtür und stieg zur Spitze hinauf. Ich hatte
keine Furcht mehr, irgend jemandem zu begegnen. Wenn einer hier gewesen war,
hatte er sich längst davongemacht. Ich blickte kurz rund herum in die
unendliche Glocke der Nacht, die über mir lag und dachte daran, daß auch Anna
kein Licht mehr sehen konnte.
    Als ich den Weg zum Haus hinunterging,
fühlte ich mich matt, und das Schweiß kam wieder. Schon von weitem sah ich
Inges Schatten hinter dem hellen Fenster. Sie hatte gewartet und sicher noch
mehr Furcht bekommen. Ich konnte sie ihr nicht nehmen.
    Inge war noch blasser als vorher. Sie
blieb am Fenster stehen. Ich ging auf sie zu und sah, daß ihre Lippen
zitterten.
    »Läuft das Wasser wieder?« fragte ich.
    Sie nickte, ohne zu sprechen.
    »Was haben Sie?«
    Sie schluckte ein paarmal.
    »Sie... Sie sind... es hat so lange
gedauert...«
    »Es ging nicht schneller.«
    »Vorhin...« ihre Stimme wurde leiser,
»da dachte ich, Sie kommen schon, es war jemand auf der Treppe.«
    Ich sah ihr genau ins Gesicht.
    »Auf der Treppe?«
    »Ja, es waren Schritte da, es knarrte...«
    »Haben Sie sich nicht verhört?«
    »Bestimmt nicht. Es kam jemand von
unten herauf, aber...«
    »Wohin ist er gegangen? Rauf?«
    »Ich weiß nicht. Es war auf einmal
ruhig.«
    »Kann das ein Patient gewesen sein?«
    »Schon, aber — die sind nicht so leise.
Es klang, als würde er schleichen und — von unten kommen auch keine Patienten
herauf. Die haben unten ihre Toilette.«
    »So«, sagte ich. Es war nicht besonders
gescheit, aber ich wußte im Augenblick nichts anderes zu sagen. Inges Augen
waren groß und rund vor mir.
    »Was ist mit der Oberschwester?«
    Da war es. Sollte ich schwindeln? Wenn
sie nicht dichthielt, konnte es unter Umständen das ganze Haus schon vor
Morgengrauen wissen, und das war ein bißchen früh für die Geschichte. Aber
wahrscheinlich würde die Polizei schon zum Frühstück da sein, und bis dahin
mußte man das Mädchen eben vergattern und vereidigen wie einen Haufen
sommersprossiger Rekruten.
    »Die Oberschwester ist oben im Schal
träum, Inge. Sie ist verunglückt.«
    Ich ließ ihr keine Zeit zu großem
Erschrecken. Ich nahm sie am Arm und hielt ihr meinen Zeigefinger vor die Nase.
    »Hören Sie zu, Inge. Sie versprechen
mir, keinem Menschen, den Sie sehen, etwas davon zu sagen. Ich gehe jetzt zum
Oberarzt und spreche mit ihm. Der wird machen, was er für richtig hält. Aber
Sie halten still, bis Sie gefragt werden. Verstanden?«
    Inge nickte. Es sah aus, als würde sie
stillhalten. Sie hielt meine Hand fest, als ich sie wegziehen wollte.
    »Herr Doktor, was hat Schwester Anna?«
    Ich war darauf gefaßt gewesen und
wartete ein paar Sekunden.
    »Sie hat gar nichts mehr.«
    Inge fing an zu weinen.
    Ich blieb bei ihr, bis sie sich
beruhigt hatte.
     
     
    Vor Biersteins Tür holte ich kurz Luft
und klopfte. Es ereignete sich nichts. Ich klopfte stärker, noch stärker,
schließlich so, daß der Rest des Hauses davon aufwachen mußte. Jetzt brummte es
drinnen. Bettfedern quietschten. Etwas Kleines, Hartes fiel auf den Fußboden.
Bierstein schien mit Kissen und Decke gleichzeitig zu ringen.
    »Wos is’n?«
    Aha.
    »Bold. Tut mir leid, Herr Oberarzt. Ich
muß Sie sprechen.«
    »Is’ es schon um sieme?«
    »Halb zwei«, sagte ich.
    »Lerge. Is’ eener gestorben?«
    Hier wäre ein Ja am Platze gewesen.
    »Es ist etwas anderes.«
    »Moment.«
    Ich konnte sehr genau verfolgen, wie
Bierstein sich erhob, die Beine aus dem Bett schwenkte, das Licht anknipste,
zur Tür tastete und den Morgenrock anzog. Er machte auf. Er sah aus, als hätten
ihn Archäologen ausgegraben.
    »Weckt der

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