Die letzte Visite
Eine tadellose Punktion, alles glatt und wunderbar. Aber
plötzlich merkte ich, daß mir zumute war wie in der Nacht, als ich den Weg zum
Turm angetreten hatte, um nach Schwester Anna zu sehen. Es war etwas nicht in
Ordnung. Es war nichts passiert, gar nichts, und trotzdem schien sich unter
unseren Augen etwas zu vollziehen, etwas Tödliches und Unabänderliches, gegen
das es keine Abwehr gab.
Als ich zum Mittagessen ins Kasino kam,
erfuhr ich, daß Dr. Bergius vor einer halben Stunde gestorben war.
»Ja«, sagte Pinkus. Wir waren allein im
Raum. »So war das, Verehrtester. Drei Stunden hat er noch mitgespielt. Immer
weniger, ohne jede große Szene. Ich hab’ ‘ne halbe Apotheke in ihn
hineingepulvert. Nix. Temperatur ging runter, Puls rauf, eine schöne crux
mortis wie im Lehrbuch. Und dann war es alle.«
Er schwieg und kaute am Knöchel seines
Zeigefingers.
»Sezieren?« fragte ich.
»Klar. Infektionskrankheit und nicht
ganz gewiß, was es war — bin gespannt, was die postmortalen Amtsbrüder
ausknobeln. Hoffentlich stellt sich nicht raus, daß er ganz was anderes hatte.
Typhus oder Kindbettfieber.«
»Wäre der erste Fall«, sagte ich. »Aber
die Pathologen finden ja öfter mal was Neues.«
Wir lachten nicht über unsere mageren
Witze. Bierstein und die Stagg kamen herein. Der Oberarzt faltete ziemlich
brutal seine Serviette auseinander.
»Fangt mir nicht beim Essen mit dem
Kram an«, sagte er. »Bin schon sauer genug.«
Wir taten ihm den Gefallen, aber es
half nicht lange. Nach zaghaftem Klopfen und schallendem Herein trat Schwester
Maria ins Kasino mit einem Gesicht als stände sie auf dem Scheiterhaufen.
»Entschuldigen Sie, Herr Oberarzt...«
»Mach ich«, erwiderte Bierstein, »was
ist?«
Sie kam nicht gleich zum Start, so daß
ich noch einen Löffel Suppe nehmen konnte.
»Es ist wegen... das Streptomycin. Das
von Doktor Bergius.«
»Was ist mit dem Streptomycin von
Doktor Bergius?«
»Es ist nicht mehr da«, sagte Maria.
Wenn man ihr gesagt hätte, sie sollte
noch ein Gedeck für den Bundeskanzler hinstellen, wäre ihre Miene nicht
ratloser gewesen.
Bierstein legte den Löffel in die
Suppe. Seine Haarborsten standen senkrecht.
»Was ist los mit dem Zeug? Ich verstehe
kein Wort!«
Ohne Zweifel trug sich Maria mit
Fluchtgedanken.
»Es ist weg«, sagte sie ängstlich. »Die
Flasche war ganz neu — fast voll. Ich wollte sie noch verwenden für
i.m.-Patienten. Nun ist sie verschwunden.«
Bierstein blies hörbar die Luft ab.
»Sie wird nicht in die Fremdenlegion
gegangen sein, Maria. Sucht richtig.«
»Wir haben überall gesucht, Herr
Oberarzt. Sie ist nicht mehr da. Ich habe sie auf dem Tisch gesehen, nach der
Punktion, als wir Doktor Bergius fortgebracht haben. Dann wollte ich aufräumen.
Alles war da, wo ich es hingelegt hatte. Nur die Flasche nicht. Ich habe Inge
gefragt und Renate... sie wissen nichts. Deswegen wollte ich fragen, ob
vielleicht Herr Doktor Pinkus...«
Pinkus sah sie mißmutig an.
»Nee, Schwester Maria. Fehlanzeige. Hab’
das Ding nicht angefaßt. Warum sollte ich?«
Bierstein aß einen Löffel voll.
»Weiß einer was?«
»Ich habe die Flasche gesehen, als ich
reinkam«, sagte die Stagg. »Stand auf dem stummen Diener. Mehr kann ich nicht
sagen.«
»Keine Ahnung«, sagte ich.
»Streptomycin fällt nicht in mein Ressort.«
»Sie hören, Mariechen. Wir haben Ihre
Pulle nicht. Seht noch mal genau nach. Im Universum geht nichts verloren. An
den unmöglichsten Stellen findet man die Klamotten wieder.«
Maria nickte voll Ergebenheit.
»Jawohl, Herr Oberarzt.«
Seufzend ging sie.
»Abfalleimer umkrempeln!« rief Pinkus
ihr nach. »Müssen tatsächlich die Heinzelmännchen im Haus sein. Aber was fangen
die mit ein paar Gramm Streptomycin an?«
Bierstein nahm sich Kartoffeln.
»Die Heinzelmännchen nichts«, knurrte
er. »Aber unsere werten Kurgäste schon. Denkt an die bösen
Infektionskrankheiten. Es ist nicht alles Gold, was mit G anfängt.«
Fräulein von Stagg senkte die Nase auf
ihren Teller. Ich mußte grinsen.
»Na ja«, sagte Bierstein, »wenn es weg
ist, geht die Welt auch nicht unter. Dann hat es irgendeiner in den Mülleimer
gefeuert und traut sich nicht zu beichten. Aber es wird sich schon wieder
anfinden.«
»So wie das Morphium«, sagte Pinkus
sarkastisch.
»Mach mich nicht meschugge, Pinkus! Hab’
gerade genug um die Ohren. Erst das, dann die Anna, dann der Bergius, jetzt
diese Pulle! Ich wollte mich hier erholen! Nicht reif werden für
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