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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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Stämmen
durch wie immer.
    Alles war wie immer. Die Bäume bohrten
sich majestätisch von unten in die Dunkelheit und nahmen nach oben kein Ende.
Es roch schön frisch und faulig zugleich nach nassem Laub. Ich atmete so tief
ich konnte und fragte mich, warum es nicht möglich war, diesen Geruch auch in
meiner Röntgenbude einzuführen.
    Als der Turmsockel vor mir auftauchte,
groß wie die Engelsburg, überlegte ich mir, ob Inge schon oben sein könnte. Es
war anzunehmen, wenn man bedachte, wie wichtig ihr die Geschichte gewesen war.
Andererseits konnte sie auch auf der Station festgehalten worden sein, wenn sie
in der Spätschicht war. Wie es auch sein mochte, hinauf mußte ich auf jeden
Fall. Ich stieg die Windung zur Sockelplattform hinauf, und da mußte ich an
Anna denken, die unten im Pumpraum gelegen hatte. Scheußlich.
    Und Herr Nogees mit dem Apachenkopf
hatte offenbar immer noch nicht herausgefunden, ob es Zufall gewesen war oder
keiner.
     
    Unter dem Spitzbogen zog ich den Kopf
ein, auch wie immer, und stieg bedächtig die Stufen hoch. Es lag kein Grund
vor, nicht bedächtig zu sein.
    Der Staub auf den Stufen rieb unter
meinen Sohlen, ganz gleichmäßig. Deswegen fiel mir etwas auf. Etwa auf
dreiviertel der Höhe. Ein flüchtiges Signal zum Gehirn. Weil es plötzlich nicht
mehr so war.
    Die Sohle meines rechten Schuhs klebte
etwas an der Stufe, sie löste sich mit einem sanften schnalzenden Laut und mit
geringem Widerstand. Das war noch nie passiert.
    Ich stieg noch zwei Stufen weiter. Das
gleiche. Die Stufen waren naß.
    Regenwasser. Mußte von oben
runtergelaufen sein heute nachmittag. Nichts Umwerfendes. Sehr klebrig nur, als
wäre es mit Mehl angerührt worden.
    Ohne zu wollen bückte ich mich und
strich mit den Fingern über die nächste Stufe. Naß, ohne Zweifel. Ich hielt die
Hand nach oben, dem Licht entgegen, das herunterschimmerte.
    Die Finger waren recht dunkel. Ich
mußte mir das oben genauer ansehen.
    Ich strich über die rechte Wange, und
es pappte. Es roch auch nicht wie Wasser.
    Dann lehnte ich an der Wand und hielt
mich mit beiden Händen an dem Stein hinter mir fest. Mir war schwindlig. Es war
jetzt alles pechschwarz um mich, aber innen war eine grelle, fürchterliche
Flamme aus Rot.
    Ich stieß mit dem linken Ellenbogen an
die harte Wand und merkte daran, daß ich die Stufen hinuntertaumelte. Bloß weg
und raus.
    Im Spitzbogen blieb ich stehen. Der
Stein war kühl, aber es half mir nichts. Davonzulaufen, weiter, wäre das beste.
Ich mußte wieder hinauf.
    Ich hielt die rechte Hand weit von mir
und suchte mit der linken mein Feuerzeug. Es war in der rechten Jackentasche,
nicht herauszubringen. Der Schweiß saß überall an meinem Körper.
    Ich riß an Futter und Stoff, bis ich es
hatte.
    Der Schein flackerte in der
Treppenspirale, in der ich mich drehte. Das Rinnsal lief dünn und dunkel über
die Stufen. Ich sah den Abdruck meines Fußes.
    Ein schwerer Tropfen löste sich von der
Kante einer Stufe, langsam, schwer, zäh, gemächlich und fiel sanft und lautlos
auf den Stein.
    Das Blut würde bald gerinnen.
    Meine Augen folgten dem tropfenden
Fluß, meine Füße waren aus Zement. Ich stieg weiter, die Flamme flackerte, der
Schweiß war kalt. Ich mußte aufpassen, um nicht in das Rinnsal zu treten, das
sich verbreiterte, je höher ich kam. Die Tropfen fielen schneller in der
gleichen, gräßlichen Lautlosigkeit. In dem offenen Rechteck über mir sah ich
den Himmel, finster, ganz unerreichbar. Ich hielt die Flamme vor mich, sie war
am Verlöschen. Zögernd schob ich mich hinaus.
    Inge lag dicht an der Öffnung zur
Plattform auf dem Rücken. Ihr Körper bildete einen flachen Bogen entlang der
Mauer. Sie trug einen leichten, hellen Regenmantel und keine Haube. Ihre Augen
starrten nach oben an mir vorbei. Eine dunkle, gezackte Fläche breitete sich
über der linken Brust in dem hellen Stoff aus wie ein großer Orden, und der
gerillte Griff eines Skalpells bildete den Diamanten in der Mitte.
     
     
    Es war immer noch Nacht.
    Kommissar Nogees war schnell
erschienen. Ich war als erster dran, aber ich hatte mich schon etwas erholt.
Das Blut war abgewaschen von meiner Hand, und die Finger zitterten nicht mehr.
    Er war mit seinen Leuten im Park und am
Turm. Jeder von uns mußte auf seiner Bude warten. Ich lag angezogen auf dem
Bett und rauchte. Die halben, ausgequetschten Zigaretten schichteten sich in
dem Aschenbecher neben mir.
    Ich hörte Schritte, es klopfte. Nogees
kam

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