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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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Schwankungen
kroch die rote Linie über der Normalmarkierung entlang. Siebenunddreißig acht,
achtunddreißig drei, mehr nicht. Der Puls ging langsam. Nichts Dramatisches
zeichnete sich ab.
    Ich sah zu, wie Bierstein den stillen
Mann mit behutsamen Bewegungen untersuchte. Er sprach nicht dabei, erst
draußen, als wir in einer Fensternische des Flurs standen.
    »Ich weeß nich, was das soll«, sagte er
kopfschüttelnd. »Wann ham Se punktiert?«
    »Vor einer Stunde«, antwortete Pinkus.
»Gegen neun.«
    »Kein Eiweiß? In beiden Proben?«
    »Beide negativ.«
    »Und ganze vierzehn Zellen im Liquor?
Irrtum ausgeschlossen?«
    »Ausgeschlossen. Er hat ja nie mehr als
dreißig dringehabt. Wäre mir sofort aufgefallen, wenn es auf einmal gewimmelt
hätte.«
    Pinkus hatte die Rückenmarksflüssigkeit
entnommen und untersucht. Der Befund sprach nicht dafür, daß die Entzündung der
Hirnhaut weitergegangen war. Keine Vermehrung des Eiweißgehaltes, keine
Anhäufung von Entzündungszellen. Und trotzdem dieser miserable
Allgemeinzustand.
    »Streptomycin hat er?«
    »Ja. Hundert Milli intralumbal,
postwendend durch die Nadel. Neunhundert i.m.«
    »Tja.« Bierstein zog den Bauch ein und
den Hosenbund höher.
    »Das muß irgendein verdrießlicher,
abgekapselter Herd sein. Am Hirnstamm oder an der Basis. Da können wir lange
mit Streptomycin rumfuchteln. Bleibt uns aber nichts anderes übrig. Geben Sie
ihm regelmäßig was für den Kreislauf, Pinkus. Vielleicht machen wir auch ein
paar kleine Transfusionen, wenn es ihm nicht zu schlecht geht. Und lassen Sie
mich morgen mal punktieren, zu meiner Beruhigung.«
    Pinkus nickte.
    Wir gingen auseinander. Nichts
ereignete sich mehr an diesem Tag. Knapp vierundzwanzig Stunden später sah ich
Dr. Bergius zum letztenmal lebend.
    Ich hatte nicht viel zu tun gehabt am
frühen Morgen, und ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß es mit Bergius
bald zu Ende sein würde. Ich ging hinüber zu Pinkus’ Station, um zuzusehen, wie
Bierstein punktierte.
    Die anderen drei waren schon da, dazu
die Stationsschwester Maria, eine massive Mütterliche und Inge, die ich nun
schon mehrfach erlebt hatte. Offenbar war ihr Nachtdienst gerade zu Ende
gegangen. Ich zwinkerte ihr zu, als ich die anderen begrüßt hatte. Sie nickte
zurück und lächelte, aber es ging nicht ganz mühelos. Die Geschichte mit Anna
lag ihr noch schwer in den Gliedern und mir eigentlich auch.
    Die Schwestern gingen hinaus. Bierstein
sah uns alle an, starrte dann wieder zu Boden und sagte nichts. Dann öffnete
sich die Tür, und Bergius wurde hereingefahren.
    Er war noch weiter weg als gestern.
Bierstein untersuchte ihn kurz. Der Körper war erschreckend abgemagert mit
einer Haut wie alter, trockener Kalk. Ich sah, daß kaum klinische Zeichen einer
Hirnhautentzündung da waren, keine Nackensteifigkeit, kein Beugereflex der
Beine. Biersteins Stirn verfinsterte sich, und er warf vielsagende Blicke in
die Gegend. Dann legten die Schwestern Bergius auf die Seite und hielten ihn
zur Punktion.
    Inge zog das Hemd hoch bis zu den
Schulterblättern. Bierstein setzte sich auf den Schemel. Er rieb sorgfältig Jod
über seine Finger und auf die Haut über den Lendenwirbeln von Bergius. Maria
reichte ihm die Punktionsnadel.
    Bierstein stieß sie leicht und sicher
zwischen den Dornfortsätzen hindurch. Bergius gab keinen Schmerzenslaut von
sich. Nur sein Atem ging gleichmäßig, oberflächlich, seufzend.
    Maria hielt die Eiweißröhrchen unter
die Nadel, nacheinander, als Bierstein den Mandrin herauszog. Der Liquor lief
in schneller Tropfenfolge, nicht im Strahl. Hoch konnte der Druck nicht sein.
Die Tropfen waren wasserklar.
    Bierstein ließ nicht zuviel ab. Er
verschloß die Nadel mit dem Mandrin. Die Stationsschwester gab ihm die Spritze
mit der Streptomycinlösung. Ich sah die Ampulle auf der Glasplatte des kleinen
Tisches am Fußende.
    Streptomycin. Pfizer. Ein Gramm.
    Die Injektionsnadel steckte noch in dem
Gummipfropfen des Verschlusses. Ihre Spitze mit dem Anschliff ragte in die
klare Flüssigkeit.
    Biersteins Finger nahmen den Mandrin
heraus. Er setzte die Spritze in den Konus, zog den Stempel etwas an, um das
Mittel mit dem Liquor zu vermischen. Dann drückte er den Kolben herunter, mit
gleichmäßiger Langsamkeit, bis er am vorderen Ring aufsaß. In derselben Sekunde
reichte ihm Maria einen Tupfer.
    Bierstein preßte ihn neben die Nadel und
zog sie mit schnellem Ruck heraus.
    Dr. Bergius bewegte sich nicht und gab
keinen Laut von sich.

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