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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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dem Sektionssaal kamen, um so intensiver roch es. Da war mir der
Geruch hinter der Röntgenröhre schon lieber.
    Der Saal hatte sechs Tische. Einer war
frei, an den anderen wurde gearbeitet. Bergius war links an der Fensterseite.
Der Kollege Randers nickte uns zu, als wir vorgestellt wurden. Seine
Gummischürze hing tief auf die großen Gummischuhe hinunter, und seine Hände
steckten bis zu den Ellenbogen in roten Gummihandschuhen.
    »Die Anamnese kennen die Herren
Kollegen? Die brauche ich wohl nicht...«
    »Nicht nötig«, sagte Bierstein.
    Randers demonstrierte sachlich und
klar.
    Da war eine alte Lungentuberkulose
gewesen mit einer frischeren Streuung. Wahrscheinlich war davon die
Hirnhautentzündung ausgegangen. Wir sahen die Entzündungsherde an der Basis des
Gehirns, nicht sehr viele, schon älter und offenbar im Rückgang.
    Die Wirkung des Streptomycins. Daran
hätte er nicht zu sterben brauchen.
    Dann noch eine Rippenfellschwarte,
zweifellos im Gefolge der Tuberkulose entstanden, und ein paar Dinge, die
nichts mit der letzten Krankheit zu tun hatten. Eine Gallenblasenoperation
hatte er gehabt, einen verheilten Knöchelbruch, chronisch entzündete Mandeln.
Was ein älterer Mensch eben hat.
    »Todesursache?« fragte der Prosektor.
    Randers sah etwas ratlos aus.
    »Kreislauf«, sagte er zögernd. »Mäßige
Herzerweiterung, Stillstand in Diastole, Blutüberfüllung der Lungen — alles
etwas mager.«
    »Na«, sagte der Prosektor, »das wäre ja
kein Wunder nach dem, was uns die Kollegen erzählt haben. Irgendwas im Rückenmarksbereich?«
    »Nichts. Zustand nach häufigen
Lumbalpunktionen.«
    »Der Liquor?«
    »Ist schon im Labor.«
    »Schön, meine Herren. Gehen wir ins
Labor.« Bierstein trat nach oben zum Kopf des Toten. Behutsam schob er das
Augenlid hoch. Er sah mich an. Die Pupille war noch immer klein wie ein
Stecknadelkopf, und die Iris lag als graublaue Blende um sie.
    Wir gingen zum Labor, den Prosektor in
der Mitte. Der Geruch wandelte sich etwas, je mehr wir uns vom Sektionssaal
entfernten. Er wurde noch wissenschaftlicher, wie Mikroskop und Gewebeschnitt,
er glich Farblösungen und Paraffin.
    Der Herr Kollege im Labor war beflissen
und lebendig. Mit seinem beklecksten Kittel sah er selbst aus wie ein Präparat
zum Mikroskopieren. Er machte einen Diener, als der Prosektor ihn begrüßte.
    »Fall Bergius? Liquor?«
    »Schon fertig, Herr Professor.
Einwandfrei Morphium drin.«
    »Zeigen Sie es uns noch mal?«
    »Aber selbstverständlich, bitte, gern.«
    Er bugsierte uns an einen Tisch mit
einem dreistufigen Metallregal, auf dem die Flaschen sich drängelten.
    »Die Herren Kollegen kennen die Probe?«
    Bierstein nickte. Ich nickte auch,
obwohl ich sie längst vergessen hatte.
    »Zehn Kubik Liquor«, erläuterte der
Laborchef. »Das Eiweiß wird mit Perchlorsäure ausgefällt. Bei Bestimmung im
Blut müßte man natürlich vorher zentrifugieren. Dann kommen etwa fünf Kubik
konzentrierte Ammoniaklösung dazu, fünfundzwanzigprozentig, acht Kubik Äther,
und dann muß man kräftig schütteln.«
    Während er sprach, goß er die Lösungen
zusammen.
    »Die Eiweißfällung ist schon geschehen.
Darf ich Sie hierherbitten?«
    Wir traten zu einem Wasserbad,
Glasgefäß mit Bunsenbrenner darunter. Mit einer Klemme hielt der Doktor das
Reagenzglas in das Wasser.
    »Man muß sehr vorsichtig abdampfen, bis
zur völligen Austrocknung des Satzes. Es dauert ein bißchen, aber ich wollte es
Ihnen gern vorführen.«
    Wir warteten ohne zu sprechen. Die
Lösung verdampfte mehr und mehr. Es war beinahe langweilig, weil ich wußte, wie
es aussehen würde, aber trotzdem starrte ich gespannt auf das Glas.
    »Als nächstes brauchen wir eine
Mischung von Formalin und konzentrierter Schwefelsäure. Einen Tropfen auf einen
Kubik. Diese Lösung wird bei Zimmertemperatur auf den eingedampften Satz
gegeben. Bei Anwesenheit von Morphium tritt eine purpurrote Färbung ein, die
langsam über Blauviolett und Violett in ein reines Blau übergeht. Wenn Sie
bitte zusehen wollen...«
    Die Tropfen fielen langsam von einem
Reagenzglas in das andere.
    Dann sahen wir es.
    Rot. Violetter Schimmer. Schönes
Tintenblau.
    »Ja«, sagte der Laborchef.
    Zehn Minuten später standen wir auf der
sonnigen Straße. Ich pumpte mich voll frische Luft. Die Fenster des Instituts
glitzerten.
    »Und nun?« fragte ich.
    »Die Beine in die Hand und zu Onkel
Nogees«, sagte Bierstein. »Wie kommen wir eigentlich dazu, seine Arbeit zu
machen?«
    Ich wußte es nicht

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