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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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warten Sie
erst ab, ob Sie nicht verhaftet werden.«
    Ich seufzte und ging hinaus.
    Im Untersuchungszimmer der Zwei war
Pinkus allein. Er saß am Schreibtisch und kritzelte in einer Krankengeschichte.
    »Guten Morgen, Herr Berufskamerad«,
sagte ich.
    Er drehte sich um. Sein Gesicht war
verdrießlich.
    »Guten Morgen, Verdächtiger! Heute wird
wohl einer von uns mitgenommen, was?«
    »Warum nur einer? Noch nie was von
Massenverhaftung gehört?«
    »Möchte bloß wissen, was der Zauber
soll.« Er klappte das Krankenblatt zu und drehte sich auf dem Stuhl zu mir
herum.
    »Meint er, er findet das Streptomycin
wieder?«
    »Glaube ich nicht, daß er das meint.
Aber einen Grund hat er bestimmt.«
    Fräulein von Stagg kam
hereingetrippelt.
    »Wie geht’s?« fragte ich.
    »Ausgezeichnet! Ich merke überhaupt
nichts. Überhaupt nichts.«
    »Fräulein Doktor hat bei uns einen
Wodka getrunken«, erklärte ich Pinkus. »Sie fürchtete den Vollrausch.«
    »Ich hätte auch was trinken sollen«,
knurrte Pinkus. »Darf ich Ihnen einen klinikeigenen Stuhl anbieten, Gnädigste?«
    Sie setzte sich, und dann kam Schwester
Maria. Sie hatte rote Flecken im Gesicht. Ihre Hände fummelten unausgesetzt an
ihrer Schürze herum. Ich bedauerte sie und ihre Aufregung.
    Eine Minute nach elf kamen Bierstein
und der Kommissar. Nogees begrüßte uns alle einzeln.
    »Herrschaften«, sagte der Oberarzt,
»Herr Kommissar Nogees will ein kleines Experiment machen. Er will die letzte
Punktion von Doktor Bergius noch mal durchexerzieren. Nun folgt schön und macht,
was er sagt.«
    Nogees nickte und rieb seine
Handflächen aneinander.
    »Ja, meine Damen und Herren, ich hoffe,
Sie nicht lange aufzuhalten. Darf ich bitten, den Tisch hereinzufahren,
Schwester Maria?«
    Sie nickte wortlos und hätte fast einen
Knicks gemacht.
    Das Untersuchungszimmer war rechteckig.
Es hatte ein großes Fenster und eine zweiflüglige Tür. An der rechten Wand
standen der Schreibtisch und ein Untersuchungsbett. Links waren zwei
emaillierte Schränke mit verglasten Türen für Instrumente und Arzneimittel.
Maria schob die fahrbare Trage herein, auf der Bergius gelegen hatte. Sie
rollte sie bis zur Mitte des Raumes, drehte sie dann schräg zur rechten
Fensterecke hin.
    »So stand sie?« fragte Nogees. Wir
bejahten einstimmig.
    »Dann darf ich Sie bitten, Ihre Plätze
einzunehmen. Herr Oberarzt, wo standen Sie?«
    »Ich saß«, sagte Bierstein trocken.
»Lumbalpunktieren macht sich besser im Sitzen.«
    »Ach, natürlich — Verzeihung.«
    Bierstein zog sich einen Hocker heran.
Er setzte sich dicht an die rechte Längsseite der Trage, genau vor die Mitte.
    »Fräulein Doktor?«
    Edeltraud kam vom Fenster her und
stellte sich ans Kopfende. Dort hatte sie gestanden, ich wußte es, Pinkus kam
wieder an die obere, rechte Ecke der Trage und stand zwischen der Stagg und
Bierstein. Ich plazierte mich am Fußende, der Stagg gegenüber.
    »Wo stand Schwester Inge?«
    Nach einem Augenblick des Schweigens
antwortete Bierstein.
    »Mir gegenüber. Sie hat ihn gehalten.«
    »Schön. Dann werde ich ihren Platz
einnehmen.«
    Der Kommissar stellte sich an die linke
Längsseite, Bierstein genau gegenüber.
    »Was hatte sie zu tun?«
    »Den Patienten festhalten«, erklärte
Bierstein, »es gibt zwei Möglichkeiten zu punktieren. Sitzend oder liegend.
Kommt auf die Krankheit an und auf den Zustand des Patienten. Im Sitzen ist es
etwas leichter. Der Patient muß einen krummen Buckel machen, damit die
Dornfortsätze der Wirbel auseinanderklaffen und man in den Zwischenwirbelraum
reinkommt. In dieser Stellung wird er festgehalten, manchmal von zweien, wenn
er sehr unruhig ist. Wir haben’s im Liegen gemacht, um ihn nicht zu sehr
anzustrengen. Inge nahm mit dem linken Arm sein Genick, rechts faßte sie in
seine Kniekehlen. Bei ihm brauchte sie sich nicht anzustrengen, er hielt
vollkommen still und rührte sich nicht.«
    »Ich verstehe. Und nun bitte, Schwester
Maria. Wo waren Sie, und wo stand das Medikament?«
    »Ich — ich war hier«, antwortete Maria
leicht flatternd, »hier, neben dem Herrn Oberarzt. Ich mußte ihm ja zureichen.«
    Nogees nickte freundlich.
    »Sehr schön. Dann holen Sie uns bitte
noch das Tischchen mit der Flasche.«
    Maria hatte alles vorbereitet. Sie
rollte den stummen Diener von der Wand rechts neben das Fußende der Trage,
dicht an meine Seite. Ich hätte die Flasche mit der Hand greifen können.
    An Nogees’ Augen sah ich, daß er es
wußte.
    Jetzt stellte sich Maria links

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