Die letzte Visite
Lieber Himmel! Der war
doch sowieso halbtot! Der hat doch...«
Wir blickten auf. Bierstein schwieg.
Eine Veränderung ging mit ihm vor. Er wurde blaß, keuchte. Seine Lippen
spitzten sich, und seine Augen waren ganz klein. Dann erfaßten seine Hände
Petras Oberarme so schnell und heftig, daß er sein Bierglas umstieß. Petra fuhr
zurück. Das Bier lief in breitem Schwall über den Tisch, dicht an mir vorbei.
Ich konnte gerade noch das Glas greifen, bevor es unten zerschellte. Die Wirtin
und die beiden einzigen anderen Gäste sahen zu uns herüber.
»Mensch, Mädchen!« schrie Bierstein.
V
»Au!« machte Petra leise.
Bierstein starrte ihr ins Gesicht, als
wäre ihm ein Tiger im Frack begegnet. Er ließ sie ebenso plötzlich los, wie er
sie gepackt hatte. Dann war ich an der Reihe. Biersteins Faust erfaßte meine
Revers und quetschte sie zusammen wie Papierservietten. Vorsichtig zog ich mein
Glas aus der Schußlinie.
»Bold!« sagte der Oberarzt heiser.
»Bold, Sie waren doch dabei, als wir den Bergius zum letztenmal punktiert
haben?«
»War ich.« Bewegen konnte ich mich
nicht.
»Was ist Ihnen aufgefallen?«
Bierstein ließ mich los. Ich lehnte
mich zurück, sah nirgendwohin und sah den sterbenden Mann vor mir.
Die letzte Punktion. Aufgefallen? Ich
hatte ihn am Tag zuvor auch gesehen. Aufgefallen?
»Apathisch«, sagte ich, »somnolent.
Kaum noch ansprechbar. Keine klinischen Zeichen von Meningitis. Temperatur
subfebril. Und trotzdem...«
»Was trotzdem?«
»Tja, ich hatte das Gefühl, daß es bald
aus ist. Sozusagen terminales Stadium...«
Bierstein nickte langsam. Petras Augen
ruhten voller Spannung auf ihm.
»Richtig, richtig. War ganz mein
Eindruck. Terminales Stadium. Ein sterbender Mann, nach plötzlicher,
unerklärlicher Verschlechterung.«
»So war es«, sagte ich.
Die Wirtin kam mit einem Lappen. Die
beiden anderen Gäste fingen wieder an, sich zu unterhalten.
»Entschuldige, Klärchen«, sagte
Bierstein, »ich war so aufgeregt vor Durst. Bring mir ein neues.«
»Ist nicht das erste Bier, das hier
umgekippt ist«, sagte Klärchen.
Wir sprachen nicht, bis sie das
Gewünschte brachte und wieder außer Hörweite war. Bierstein zog unsere Köpfe
über dem Tisch zusammen und beugte sich vor.
»So war es. Sterbender Mann. Wie sind
die Pupillen eines Sterbenden im allgemeinen, Bold?«
»Weit«, antwortete ich sofort.
»Sauerstoffmangel — cerebrale Anoxämie auf deutsch — weit.«
»Genau so.« Bierstein sah fast listig
aus. »Und wie waren die von Doktor Bergius?«
Ich wußte es, ohne nachdenken zu
müssen.
»Eng.«
»Nur eng?«
Ganz deutlich sah ich jetzt die Augen
in dem kalkigen Gesicht. Sehr enge Pupillen. Fast nadelspitz.
»Ganz eng. Maximal kontrahiert.
Myosis.«
»Maximal kontrahiert«, wiederholte
Bierstein. »Myosis.«
Er trank in langsamen, langen Zügen.
»Wenn die Pupillen in dem Stadium mal
nicht völlig erweitert sind — Mittelstellung schön, aber so eng dürften sie
doch eigentlich nicht sein, was?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Also?« fragte der Oberarzt.
»Morphium.«
»Gut, der Kandidat. Morphium. Macht
enge Pupillen bei Überdosierung. Wissen Sie noch, wie Pinkus darüber sprach
beim Abendbrot, als Anna den Diebstahl gemeldet hatte?«
»Ja. Fräulein Stagg sagte, es läge bei
ihr am Blick in die Abendsonne.«
»Hm. Aber Bergius hat nicht in die
Sonne geblickt. Und ihr könnt mich totschlagen, wenn ich euch jetzt nicht
verrate, wie das zugegangen ist.«
Mein Herz klopfte. Ich hielt mein Ohr
dicht zu Bierstein herüber.
»Paßt auf, meine Kinder«, sagte er ganz
leise. »Unser Streptomycin in den Flaschen ist Trockensubstanz. Pulver. Ein
Gramm in jeder Pulle. Vor Anwendung müssen wir es auflösen. Mit destilliertem
Wasser. Zehn Kubik auf eine Ampulle. Dann haben wir hundert Milligramm in jedem
Kubikzentimeter und können genau dosieren.«
Ich begann zu ahnen, worauf er
hinauswollte. Ich gestand mir, daß ich darauf niemals gekommen wäre. Das mußte
der Teufel persönlich erfunden haben.
Petra atmete kaum.
»Seht ihr«, sprach Bierstein weiter,
»und Morphium ist eine wäßrige Lösung. Substanz des salzsauren Morphiumsalzes,
aufgelöst in destilliertem Wasser. Hundert oder zweihundert Milligramm in jedem
Kubik, also in jeder Ampulle. Und nun kommt einer auf den Trichter und schnappt
sich zehn Ampullen Morphium und spritzt sie nacheinander in die Streptomycinflasche,
schön säuberlich und steril, dann löst sich die Streptosubstanz genauso
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