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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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sein, kein Patient, jemand vom Personal, jemand, dem man
vertrauen konnte, vielleicht sogar — ich wollte keine Zeit mehr mit Nachdenken
verlieren. Das hier war meine letzte Chance. Ich mußte alles auf eine Karte
setzen, va banque, mußte noch einmal hoch und an die eiserne Pforte zum Schaltraum.
Bald würde ich es nicht mehr schaffen, es war die einzige Möglichkeit, ganz
egal, auf wen ich treffen würde, was sollte mir noch passieren, außer dem Tod
im Becken oder dem Tod draußen.
    Ich zog mich hoch. Mein Körper war
dreimal so schwer wie vorher.
    Meine Arme waren ausgelaugt wie nach
zwanzig Klimmzügen. Die Beine ließen sich nicht mehr strecken. Ich klebte an
der Mauer, und jeder Zentimeter dehnte sich aus auf Meilen. In was für einer
Form war ich vor einer Stunde noch gewesen. Das Bewußtsein, nichts anderes mehr
tun zu können, ließ mich die oberste Sprosse erreichen. Ich quetschte meine
Jacke zur Seite und hakte den linken Unterarm unter das Eisen. Dann fing ich
an, mit der rechten Faust gegen die Tür zu schlagen und schrie und brüllte mit
allem Atem, der noch in mir war.
    Es kam mir so leise vor, als täte ich
gar nichts. Nie würde ein Mensch das hören. Meine Faust war aus Watte, und
meine Stimme heiser und matt. Ich holte von neuem Luft und schrie und trommelte
weiter. Die einzige Hoffnung war, daß der Steinkörper den Schall weiterleitete
bis obenhin und ihn nicht erstickte.
    Die Luft ging mir aus. Meine Hand
schmerzte, trotz der Gefühllosigkeit. Die Kälte hatte ich vergessen, aber
deswegen vermehrten sich meine Kräfte nicht. Ich wartete, wechselte die Hände.
Dann fing ich wieder an. Die Pumpe konnte man hören, wenn man in der Nähe des
Bassinsockels war, der Lärm mußte nach oben dringen in der Stille der Nacht.
Entweder war der Kerl taubstumm, oder er wollte mich nicht hören.
    Ich nahm wieder den linken Arm zum
Festhalten. Die Stange schnitt in die Ellenbeuge. Während des Wechsels blieb
ich still und merkte, daß das Stampfen der Pumpe aufgehört hatte. Abgeschaltet.
Hoffentlich sprang sie von selbst nicht wieder an. Dann kam hoffentlich jemand
und sah nach, wie Anna. Zum drittenmal hörte ich mein Gehämmer und mein
Geschrei. Das Becken dröhnte davon wider.
    Als ich nicht mehr konnte, klammerte
ich mich mit beiden Händen an die Sprosse. Meine Stirn fiel auf das kalte
Eisen. Ich sah nichts mehr und steckte in einem finsteren, dichten Nebel.
    Alle Hoffnung ballte sich in mir
zusammen, daß meine Ohren mich nicht täuschten.
    Die Schritte kamen herunter.
    Ich schrie noch einmal. Die Schritte
wurden hastiger. Das Wesen schien zu laufen. Es hatte mich gehört. Jemand war
gekommen, um zehn, bei völliger Dunkelheit und hatte mich gehört. Glück bei
allem Pech. Es konnte sein, daß ich heulte vor Freude. Ich spürte keine Tränen
an meinem erstarrten Gesicht.
    Dann hörte ich alles ganz genau. Die
Tür zum Pumpenraum wurde aufgerissen.
    »Hallo! Wer ist da?« rief es.
    »Hier!« schrie ich. »Im Bassin! Sie
müssen die Eisentür aufmachen! Die Eisentür zum Bassin! Ich bin dahinter! Die
Eisentür!«
    Ein Ausruf, mehr erstaunt als
erschrocken. Kein Wunder. So was passierte nicht alle Tage.
    »Was ist los?«
    Ich fiel fast von der Leiter. Es war
Petras Stimme. Es war Petra.
    Ich pumpte mich voll Luft und brüllte
wie ein Stier.
    »Petra! Ich bin es! Bold! Hinter der
Eisentür im Bassin! Du mußt versuchen, sie aufzukriegen! Sie hat bestimmt einen
Riegel! Sonst hol den Schlüssel von unten!«
    Ich konnte nicht mehr und hielt inne.
Vermutlich war noch nie einem Mädchen auf diese Weise das Du angeboten worden.
    Sie antwortete nicht. Sie fragte nichts
mehr. Ich hörte Gepolter und schleifende Geräusche. Die Eisentür wurde
lebendig. Sie vibrierte, Metall kratzte auf Metall. Mir war, als könnte ich
Petras Atem spüren.
    Und dann kam weiß Gott der eiserne
Türflügel zu mir herein in meine Dunkelheit. Ich sah Licht. Ein Schwall
wärmender Luft folgte und strich über meine Haut. Petras Gesicht war da. Nicht
hübsch, aber schön, und trotz aller Verblüffung war die fröhliche Frechheit
noch zu erkennen.
    »Moment«, stammelte ich. »Die Jacke.
Meine Jacke. Moment.« Ich zerrte das nasse Bündel hinter der Sprosse vor. Petra
griff danach ohne ein Wort. Ich legte die Hände auf die untere Kante der
Öffnung. Dann versuchte ich zu springen.
    Petra faßte mich schon unter den
Achseln. Ihre Arme rissen mich nach oben, weg vom Wasser. Ich rutschte mit dem
Bauch über die Kante. Meine Beine kamen von

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