Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Mädchentoilette geflüchtet war, war Amelia verschwunden. Ebenso wenig wie alle anderen hatte Sylvia eine Erklärung dafür, was Amelia aufs Dach getrieben haben könnte– oder vom Dach herunter.
» Alles in Ordnung, Kate? « , fragte Kelsey. Sie war stehen geblieben und schaute Kate besorgt an.
» Ja, äh, entschuldige. Ich bin mit den Gedanken ganz woanders. « Kate schüttelte heftig den Kopf. » Ich hab gerade Kaffee aufgesetzt. Willst du reinkommen und eine Tasse mit mir trinken? «
Die Einladung war spontan und ungewohnt. Auch wenn Kelsey Kate in letzter Zeit sehr geholfen hatte, hatten die beiden Frauen noch nie zusammen einen Kaffee getrunken. Doch jetzt verspürte Kate plötzlich das Bedürfnis dazu. Sie wollte sich mit Kelsey an den Tisch setzen, als wären sie beide gute Freundinnen.
» Ja, sicher « , sagte Kelsey ein bisschen verblüfft. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. » Aber lange kann ich mich nicht aufhalten. Sean passt auf die Jungs auf, und er muss gleich zur Arbeit. «
Kelsey kam in die Küche und setzte sich. Kate füllte zwei Henkeltassen mit Kaffee, stellte sie auf den Tisch und sagte sich die ganze Zeit, dass solche Dinge genau so abliefen. Eine spontane Einladung, ein lockeres Gespräch. So vermieden es partnerlose, kinderlose Menschen, völlig zu vereinsamen. Vielleicht sollte sie Kelsey auch noch Muffins oder Kekse anbieten. Aber sie hatte weder das eine noch das andere im Haus. Sie spürte Kelseys Blick.
» Tut mir leid. Ich weiß, ich benehme mich komisch… «
» Nein, nein, ganz und gar nicht « , sagte Kelsey hastig und wenig überzeugend. » Das könnte man eher von mir behaupten, ich habe schließlich in aller Herrgottsfrühe an deine Tür geklopft. «
Kate lächelte in ihre Tasse und kämpfte mit den Tränen. Kelsey war so nett und so großzügig. Eine Frau, die von ganzem Herzen und mit voller Überzeugung Mutter war, nicht wie Kate, die sich immer wieder von ihrem Ehrgeiz ablenken ließ. Was auch immer mit Amelia passiert sein mochte– wenn Kate nicht so beschäftigt gewesen wäre, wenn sie besser aufgepasst hätte, hätte sie es vielleicht verhindern können.
» Ich habe gestern eine anonyme SMS bekommen, in der stand, Amelia sei nicht gesprungen. Seitdem bin ich, ich weiß nicht, ziemlich durch den Wind. «
» O Gott, o Gott « , flüsterte Kelsey und schlug sich eine Hand vor den Mund. » Das ist ja schrecklich. Wer macht denn so was? «
» Ich weiß nicht. « Kate schüttelte den Kopf. » Aber ich frage mich, ob derjenige vielleicht die Wahrheit sagt. «
» Wirklich? Ich dachte, die Polizei… « Kelsey unterbrach sich. » Na ja, ich kenne keine Einzelheiten. Aber ich wusste gar nicht, dass es Zweifel gab. «
» Gab es auch nicht. « Kate trank einen Schluck Kaffee. » Jedenfalls nicht von Seiten der Polizei. Aber ich hatte von Anfang an kein großes Vertrauen zu dem Detective, der die Ermittlungen geleitet hat. Er schien es ziemlich eilig zu haben, sich einem interessanteren Fall zuwenden zu können, oder was weiß ich. « Es widerstrebte Kate, dass sie so defensiv klang, so vorwurfsvoll. So verzweifelt. » Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass in Amelias Leben etwas vor sich ging, von dem ich nichts wusste. Von dem ich aber hätte wissen müssen. Etwas Schlimmes. «
» Hmm « , machte Kelsey. Sie betrachtete den Tisch und rutschte verlegen auf ihrem Stuhl herum. » Hör mal, ich hab dir das bisher nicht erzählt, weil ich keinen Grund dafür sah. Aber jetzt, ich weiß auch nicht. Vielleicht ist es doch wichtig. «
Kates Magen drehte sich um. » Was denn? «
» Ich habe Amelia ungefähr eine Woche vor ihrem Tod mit einem Jungen hier vor dem Haus gesehen. Sie sind zusammen reingegangen. «
» Wirklich? « Kates Herz begann schneller zu schlagen. » Ein Junge, hier im Haus? «
Wahrscheinlich wollten sie hier drinnen in Ruhe knutschen. Vielleicht war es ja auch etwas anderes gewesen, aber wie blind war sie eigentlich gewesen, fragte sich Kate. Wie lange wollte sie sich noch einreden, dass gute Noten zu haben und ein Sportass zu sein bedeutete, keinen Sex zu haben? Erst wenige Wochen vor ihrem Tod hatte Amelia Kate ganz direkt gefragt, wann sie angefangen hatte, sich für Jungs zu interessieren. Und Kate hatte den Vorwand, sie sammle Informationen für einen Aufsatz, akzeptiert. Im Grunde hatte sie ihr das jedoch nicht abgenommen, die Frage hatte eindeutig Alarmglocken läuten lassen. Vielleicht hatte sie es trotzdem hingenommen, weil es das Einfachste
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