Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
bezahlt. Ich bin dankbar und erleichtert, dass sie kommt, auch wenn meine Mutter sie nur deswegen bezahlt, damit sie nach drei Nächten flüchten konnte. Sie besaß sogar die Unverschämtheit, sich mit Tränen in den Augen zu verabschieden. Das waren garantiert Tränen der Erleichterung.
Mütter. Jetzt bin ich auch eine. Das ist das Verrückteste daran. Ich: eine Mutter. Mutter eines lebenden Wesens.
Die Schwestern im Krankenhaus haben mir immer wieder gesagt, ich soll Amelia auf die Säuglingsstation bringen lassen, damit ich mich ein bisschen ausruhen konnte. Sie haben mir versprochen, sie mir zu den Stillzeiten zu bringen. Das haben sie mir angeboten, weil ich allein war, das weiß ich. Die Frau, die mit mir auf dem Zimmer lag, hatte dauernd Besuch von ihrem Mann, der ihr mit dem Baby geholfen hat. Die hat ihr Kind nicht auf die Säuglingsstation bringen lassen.
Also habe ich das auch nicht getan. Amelia soll keinen Mangel leiden, weil ich allein bin. Noch nicht. Niemals.
Kate
30. JUNI 1997
Er hat mich heute zu sich kommen lassen, um mir mitzuteilen, dass meine Rechtsexpertise zum Thema » Rechtshemmende Einwände « das Beste war, was er je von einem Praktikanten gelesen hat. Das ist, als wäre der Präsident aus dem Oval Office gekommen, um mir auf die Schulter zu klopfen. Das passiert einfach nicht.
Eins weiß ich jetzt schon: Um über Seth hinwegzukommen, brauche ich keinen anderen Freund, nein, ich werde einfach die beste Praktikantin, die Slone & Thayer je gesehen hat.
Kate
27. NOVEMBER
Kate stand in der Küche und wollte gerade die Kaffeemaschine einschalten, als es an der Tür klopfte. Es war erst kurz nach sieben und noch gar nicht richtig hell. Sie drückte auf die Einschalttaste und ging ans Fenster. Draußen hüpfte ihre Nachbarin Kelsey in Laufshorts, einem knallgelben Nike-T-Shirt und einer Strickmütze, die sie sich über ihr kurzes Haar gezogen hatte, von einem Fuß auf den anderen.
Kelsey hatte sechsjährige Zwillinge und einen wunderbaren australischen Ehemann, der sie ebenso anbetete wie sie ihre Zwillinge. Kelsey gegenüber hatte Kate stets Minderwertigkeitskomplexe. Das lag nicht an irgendetwas, was Kelsey tat, sondern daran, wie konfliktfrei bei ihr alles abzulaufen schien. Sie wollte eine Vollzeitmutter sein, also war sie es. Bei ihr gab es keine Gratwanderung zwischen unterschiedlichen Interessen und Verpflichtungen wie bei Kate, bei der irgendetwas immer zu kurz kam– Kate, Amelia, ihr Beruf.
In den Wochen, seit Kates Freunde nach Hause gefahren waren, hatte Kelsey sich zu ihrer Lebensretterin entwickelt. Sie brachte ihr Eintopfgerichte, ging für sie einkaufen und wusch ihre Wäsche, ohne dass Kate sie darum hätte bitten müssen und ohne einen Dank dafür zu erwarten. Sie hatte beinahe enttäuscht gewirkt, als Kate ihr mitgeteilt hatte, sie würde wieder zur Arbeit gehen und brauche jetzt keine Hilfe mehr.
» Hast du dich ausgesperrt? « , fragte Kate, als sie die Tür öffnete.
» Nein, nein « , sagte Kelsey und hob eine Hand zum Gruß, während sie weiter auf der Stelle lief. » Ich wollte nur mal kurz vorbeischauen und fragen, wie dein erster Arbeitstag war. «
» Ach so, ja es war… « Kate unterbrach sich, weil sie plötzlich keine Erinnerung mehr daran hatte, was in der Kanzlei vorgefallen war.
Seit sie die SMS bekommen hatte, Amelia sei nicht gesprungen, war alles andere in einem Nebel verschwunden. Es hatte auch nicht geholfen, dass sie bis spät in die Nacht alle SMS auf Amelias Handy gelesen hatte. Sie hatte mit denen angefangen, die Amelia und Sylvia ausgetauscht hatten, in der Hoffnung, die würden sie am wenigsten erschüttern. Sie hatte über die vielen, scheinbar belanglosen Themen gestaunt. Ein hässlicher Pickel, die geschmacklosen Schuhe einer Freundin, die zufällige Berührung mit einem bestimmten Jungen auf dem Schulkorridor, Einzelheiten eines seltsamen Traums– all das wurde für wert befunden, unter die Lupe genommen zu werden. Die Anzahl der SMS war so gigantisch, dass man hätte meinen können, die beiden Mädchen hätten sich noch nie in ein und demselben Zimmer aufgehalten. Aber das hatten sie getan, fast bis zum Schluss.
Hau ab, ich deck dich, lautete die letzte SMS , die Sylvia Amelia geschickt hatte, als sie in Mr Woodhouse’ Zimmer gewesen war.
Sylvia hatte Molina gegenüber zugegeben, dass sie Amelia zehn Minuten vor deren Tod geholfen hatte, aus dem Büro des Schuldirektors zu entwischen. Aber als Sylvia gleich danach auf die
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