Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)

hatte. Und dennoch überkam sie Panik.
    » Was meinen Sie damit? «
    » Da waren Kratzer an Amelias Unterarmen, ziemlich lange. Wie von Fingernägeln. « Er hielt einen Augenblick inne, als Kate zusammenzuckte. » Wollen Sie das wirklich hören? Es ist wahrscheinlich nicht nötig, so sehr ins Detail zu gehen. «
    » Ich will es wissen « , sagte Kate, während sie sich bemühte weiterzuatmen. » Ich muss es wissen. Fahren Sie fort. «
    » Dann die Körperposition. Sie schließt einen Suizid nicht direkt aus, aber sie wirft Fragen auf. Fragen, auf die jemand Antworten hätte finden sollen. «
    » Können wir Molina anrufen und ihn fragen? «
    » Das habe ich bereits getan. « Lew ordnete seine Gabel und sein Messer so, dass sie zu beiden Seiten seines Tellers zu liegen kamen. » Im Moment ist er offenbar nicht zu erreichen, er ist auf Angeltour irgendwo in den Florida Keys. Er kommt erst in einer Woche zurück. «
    » Sagten Sie nicht, er arbeitet jetzt bei einer Sicherheitsfirma? « , fragte Kate. Das klang nach einer Degradierung und nicht nach einem Mann, der sich einen Angelurlaub in Florida leisten konnte.
    » Ja, aber nicht für acht Dollar die Stunde bei Best Buy oder so was. Er arbeitet für Carmon Industries, Firmenwachschutz. Die stellen ehemalige Polizisten, FBI -Leute und dergleichen ein. Nach allem, was ich gehört habe, ist es ein lukrativer Deal, wenn man auf so was steht. «
    » Finden Sie nicht, dass das alles bestens zusammenpasst? Der fehlende Autopsiebericht und Molinas Ausscheiden aus dem Polizeidienst genau in dem Moment, als ich anfange, Fragen zu stellen? «
    » Merkwürdiges Timing, allerdings. «
    » Merkwürdig? « , fragte Kate. Allmählich wurde sie sauer. War er etwa genauso dickfellig wie Molina? » Das war’s? Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? «
    Lew trank einen letzten Schluck Kaffee und nickte. » Vorerst. «
    » Wir werden also einfach herumsitzen und warten, bis Molina aus dem Urlaub kommt? « , fragte sie aggressiver und lauter als beabsichtigt.
    Sie spürte, wie mehrere Leute sich nach ihr umdrehten. Es war ihr egal. Es reichte ihr. Sie hatte sich einmal abwimmeln und mundtot machen lassen. Man hatte sie dazu gebracht, etwas zu akzeptieren, was sie nicht glaubte. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
    » Nein « , erwiderte Lew gelassen. Er stand auf, strich sorgfältig ein paar Dollarnoten glatt und schob sie unter den Behälter mit den Salz- und Pfefferstreuern. » Wir fangen noch einmal bei null an und gehen Molinas Schritte alle noch einmal durch. Wenn nötig, schlagen wir neue Wege ein. Ihre Tochter ist tot, und an der Stelle, wo es passiert ist, hat eine unbekannte Person das Wort sorry an die Wand geschrieben. Wir haben medizinische Befunde, die Fragen aufwerfen, und eine anonyme Botschaft, die besagt, dass Ihre Tochter sich nicht selbst das Leben genommen hat. Das ist für mich mehr als genug, um den Fall noch einmal aufzurollen. «
    » Ach so « , sagte Kate, erleichtert und ein bisschen erschrocken, dass sie eine Schwelle überschritten hatten, ohne dass sie es bemerkt hatte. » Okay, einverstanden. «
    » Wir haben also Fragen. Was glauben Sie, wer die Antworten hat? «
    » Das weiß ich nicht « , sagte Kate mit brüchiger Stimme. » Das weiß ich wirklich nicht. «
    » O doch « , entgegnete Lew und hielt ihr die Tür auf. » Sie wissen viel mehr, als Sie glauben. «
    Es war Kates Vorschlag gewesen, als Erstes mit Sylvia zu reden. Molina hatte sie zwar vernommen, aber Kate hatte immer das Gefühl gehabt, dass das Mädchen mehr wissen müsste. Und Lew hatte sich einverstanden erklärt, mit ihr anzufangen.
    Julia, Sylvias Mutter, öffnete die Tür. Sie trug eine Haremshose, ein kurzes, enges Top mit Spaghettiträgern und rote Ballerinas. Ein Aufzug, in dem Kate sich nie im Leben erwischen lassen würde. Aber Julia– eine erfolgreiche Schmuckdesignerin, wenn sie nicht gerade ihre Kinder verhätschelte– sah tatsächlich gut darin aus. Zudem hatte sie einen schlanken, muskulösen Körper und hohe Wangenknochen. Mit ihrem nachlässig im Nacken zusammengebundenen Haar wirkte sie viel jünger, als sie in Anbetracht des Alters ihrer Kinder sein konnte. Ihr Sohn studierte bereits im zweiten Jahr in Stanford.
    » Oh, hallo « , sagte Julia. Ihr leichter holländischer Akzent schlug stärker durch als gewöhnlich. Sie wirkte überrascht und verwirrt und schaute Kate und Lew abwechselnd an. Ehe Kate dazu kam, ihr den Grund ihres Besuchs zu erklären, kam ein kleiner