Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
gestoßen. Ich war davon überzeugt, dass Liv ebenfalls total begeistert sein würde. Das hoffte ich jedenfalls.
Ich mochte Liv, und das nicht nur, weil sie jung und hübsch war und ausgefallenen Schmuck trug und dieses geheimnisvolle Tattoo hatte, von dem man ein bisschen sehen konnte, wenn sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Liv war die engagierteste Lehrerin, die ich je gehabt hatte. Und sie schrieb. Genau wie ich. Sie hatte mir sogar mal ein paar Kurzgeschichten zu lesen gegeben, die sie in einer kleinen literarischen Zeitschrift veröffentlicht hatte, und die waren richtig gut. Also nicht so gut, dass der New Yorker sie gedruckt hätte, aber trotzdem.
Liv war total begeistert von meinen Geschichten, und sie unterstützte mich, wo sie konnte. Sie wollte mich immer überreden, etwas damit zu machen, meinte, ich sollte mal ein paar Geschichten für ein Autorenstipendium einreichen. Aber es war eine Sache, an diesem Journalismusprogramm in Princeton teilzunehmen. Artikel über Tatsachen zu schreiben war nicht dasselbe, wie sich Geschichten auszudenken. Die wollte ich nicht veröffentlichen, damit die Welt sie zerpflücken konnte. So weit war ich noch nicht.
» Wer hätte gedacht, dass der gute alte Nietzsche so ein Romantiker war? « , sagte Sylvia. Ich spürte, dass sie mich erwartungsvoll anschaute und hoffte, dass ich mich für das Thema interessierte. Aber es interessierte mich nicht. » Davon verstehst du nichts, Amelia. Genau so ist nämlich Verliebtsein– jenseits von Gut und Böse. « Ihre ganze shakespearsche Dramatisiererei war nur halb scherzhaft gemeint. Sobald Jungs ins Spiel kamen, ging es bei ihr um Leben und Tod, von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. » Klar hab ich auch andere Jungs gemocht « , sagte Sylvia jetzt todernst. » Aber mit Ian ist es was ganz anderes. Anfangs mochte ich ihn, weil er süß war und weil er so einen niedlichen Akzent hatte und alles– und weil ich dachte, vielleicht könnte ich eines Tages mal Herzogin werden–, aber jetzt ist es, ich weiß auch nicht, er ist einfach ein wunderbarer Mensch. Er hat mir echt die Augen geöffnet. «
Sie sah mich an, als würde ich darauf brennen, sie mit Fragen über ihre neue Liebe zu löchern. Aber darauf konnte ich verzichten. Ich hätte vielleicht schon ein oder zwei Fragen gehabt, wenn sie mir nicht haargenau dasselbe über drei andere Jungs erzählt hätte, mit denen sie vor Ian zusammen war. Das absolut Verrückte war, dass sie noch nicht mal log. Sylvia glaubte, was sie sagte. Aber das war zugleich auch das Großartige an ihr. Sie hatte ein riesiges Herz, das hemmungslos alles verschlang, was ihm über den Weg lief. Es war schön, es ganz in der Nähe klopfen zu hören, vor allem, wo mein hyperaktives Gehirn mein eigenes Herz fast erdrückte, so dass ich es kaum noch spürte.
Außerdem konnte es ja tatsächlich sein, dass Ian ihre große Liebe war. Unwahrscheinlich, aber auch nicht vollkommen unmöglich.
» Oh, Mist « , sagte ich, als mir plötzlich die Uhrzeit wieder einfiel. » Ich bin spät dran. Ich muss heute bei Kelsey babysitten. «
Mir blieben nur zehn Minuten, um aus der Tea Lounge zu verschwinden und zu dem Maggie-Treffen bei Zadie zu kommen, die ziemlich weit weg in der Eighth Street wohnte. Und ich durfte auf keinen Fall zu spät kommen. Zadie hatte angeblich vor, uns dreien die letzte Aufgabe zu verkünden, die wir erfüllen mussten, um vollwertige Magpies zu werden. Dabei war ich mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das überhaupt wollte. Ich wusste nur, dass ich alles tun würde, um meine Freundschaft mit Dylan nicht zu gefährden.
» Du hörst mir überhaupt nicht zu, oder? « , sagte Sylvia, während sie abwesend in ihrem Philosophie-Lehrbuch blätterte. Dann hielt sie inne und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. » Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los? Du hast nie Zeit, und wenn doch, führst du dich auf wie ein Freak. Und was haben die ganzen blöden Sprüche auf Facebook überhaupt zu bedeuten? Amelia Baron kann’s kaum erwarten. Du weißt genau, wie sehr mich das ankotzt, Leute, die auf Facebook den großen Dichter markieren. Das klingt ja fast, als wärst du verliebt oder was weiß ich. «
Ich sah sie entgeistert an. Ich konnte nichts dagegen tun.
» Ach du Scheiße, du bist tatsächlich verliebt! « , kreischte sie und schlug ihr Buch so laut zu, dass der dünne Drehbuchautor hinter uns ihr einen bösen Blick zuwarf.
» Halt die Klappe « ,
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