Die letzten Dinge - Roman
Welt … wacht auf, Verdammte dieser Erde … wo war das noch … das galt mir … Ich werde den Tag nicht überleben …
Fluchend und stöhnend torkelte Ivy ins Bad.
Ich koche dir einen Kaffee. Wiener Melange.
Wenn wir unten aus der Tür kommen, denken alle, wir haben was miteinander gehabt.
Hätten wir doch …, murmelte Lotta …, hätten wir doch nur … gehabt …
Hätten was?
Hätten wir doch nur … noch … ein paar frische Handtücher.
Sie riss das Fenster auf und sah die blaue Morgenhelle über die Dächer steigen, und die ganze frische Luft aus dem Osten wehte herein, kühl und belebend und sie duftete nach Heu, nach verfrorenen Sonnenblumen und dicken Löwenzahnwurzeln und sie erzählte, erzählte allen, wo überall der Wind gewesen war in dieser Nacht.
Fünfzehn Tropfen für das Herz. Zwanzig Tropfen für den Magen. Zehn Tropfen für den Kreislauf. Schwester Rosalinde war schon um sechs Uhr gekommen, um allein zu sein, um in Ruhe zählen zu können, sie stand allein im weiß getünchten Zimmer vor den weißen Schränken und sah nicht den Sonnenaufgang und roch nicht den Ostwind durch das Fenster wehen und hörte nicht Herrn Wickert husten.
Fünfzehn Tropfen für Frau Wilhelm, zwanzig Tropfen für Herrn Schiwrin, zehn Tropfen für Alwis und sein Deddedei.
Machten 45 Tropfen, machten 90 Tropfen, machten 173 Tropfen, machten tausend Tropfen am Tag und hunderttausend in der Woche und einen See von aberunzähligen Tropfen in einem Schwesternleben. Rosalinde zählte und zählte und sie durfte sich nicht verzählen, sonst brachte sie noch einen um die Ecke und hatte ihn auf dem Gewissen. Zwischendurch hustete sie selber, griff nach dem Taschentuch, nahm ein Aspirin, dann nahm sie ein neues rosa Plastiktöpfchen und ließ abermals die gesunde Medizin hineintröpfeln … dreizehn … vierzehn … Schluss.
Wunddokus. Die Wunddokus. Sie musste alles schreiben heute, egal, rücksichtslos, sie musste sich taub stellen, wenn jemand klingelte, sie durfte nicht pflegen, sie durfte nicht, denn wenn die Heimaufsicht kam und die Papiere stimmten nicht, dann wurde sie gescholten, als hätte sie jemanden umgebracht. Rosalinde war der Rechtfertigungen müde. Sie rechtfertigte sich vor der Heimaufsicht, vor der Pflegedienstleitung und vor den Angehörigen.
Die Pflegeberichte … Die Bedarfsmedikation … Die Kärtchen. Krankenhaus, wer war zurzeit im Krankenhaus? Zwei Rollstühle mussten repariert werden. Bei der Übergabe musste sie dringend erwähnen, dass Frau Friederich aus dem Krankenhaus zurückkam – und MRSA dort bekommen hatte. Multiresistente Keime. Ein Alptraum. Sie würden das Zimmer in eine Quarantänestation verwandeln müssen. Schutzanzüge her, oder sterile Kittel, Mundschutz, Hauben, Plastikgeschirr, alles musste herbei.
Rosalinde schob die Medikamentenliste ins Licht und die Brille höher auf die Nase. Wenn nur niemand sie störte. Wenn es nur still blieb. Wenn nur alle noch schliefen. Sie musste so viel zählen.
Sie zählte Tropfen. Und sie zählte Bettgitter. Die Heimaufsicht hatte angeordnet, alles aufzuschreiben. Wie oft man ein Bettgitter heruntermachte. Wie oft man es wieder hochmachte. Warum man es runtermachte. Und warum man es wieder hochmachte. Und wann man es heruntermachte. Und wann wieder hoch. Und wer es heruntergemacht hatte. Und wer wieder hoch. Hundertmal am Tage, Bettgitter rauf, Bettgitter runter. Mit Datum und Unterschrift.
Rosalinde zählte die Tropfen und die Bettgitter. Und sie zählte die Wunden. Eine Schürfwunde am Ellenbogen, eine Delle an der Hüfte, ein Ausschlag an der Wade. Alte Menschen hatten immer Wunden und keiner konnte sie alle zählen. Heilte irgendwo ein Finger, so saß sich einer an der Hüfte wund, hatte sie ein Bein verbunden, dann fiel woanders jemand auf den Kopf. Rosalinde schrieb auf: Die Wunde im – ersten Stadium, zweiten Stadium, dritten Stadium. Mit Rand, mit Schorf, mit Tiefe zwei Millimeter, in der Farbe rot, schwarz, violett, gelb. Behandelt mit Verband, mit Kompresse, mit Suprasorb, mit Creme. Wundheilung hieß die Überschrift.
Rosalinde hatte sich ein nervöses Zwinkern angewöhnt. Ein Lidschlag für jeden Tropfen, der aus dem Fläschchen fiel. Sie musste nicht nur die Tropfen zählen, die sie ausgab. Sie musste auch jeden Tropfen zählen, den ein Mensch trank, den er nicht trank, den er nicht trinken konnte, nicht trinken wollte. Den Tropfen, den man ihm aufnötigte, den Tropfen, den er ausspuckte, den Tropfen, den er bei sich
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