Die letzten Dinge - Roman
die zog sie ab. Blieben zwei. Eine davon hatte multiresistente Keime, damit kannte sie sich nicht aus. Übrig blieb nur das Sotzbacher Mädchen.
Irgendetwas stimmte nicht mit der Rechnung, sie kam nicht drauf.
Lotta betrachtete flüchtig ihre Lippe im Spiegel vom Badezimmer. Eine kleine, blutverkrustete Stelle, ein Biss. Lotta war gebissen worden. Ein euphorischer Glanz leuchtete in ihren Augen. Die Haut darunter war fahl und fleckig. Dieses Heim und all seine Begleitumstände brachten sie noch um. Und trotzdem fühlte sie sich hier zu Hause. Was hier alles geschah, … was alles geschah!
Einen Augenblick lang rieb sie sich den schmerzenden Muskel, überlegte, ob sie diesen Beruf nicht richtig erlernen sollte, Altenpflegerin. Werden wie Rosalinde. Da hatte man eine Aufgabe, da wusste man, wo man hingehörte. Heimatlose unter Heimatlosen. Entwurzelte Alte, heimatlose Pfleger, Exil für alle. Ein Heim, in dem sie geküsst worden war wie noch nie in ihrem Leben. Unten vor der Haustür, bis die Nachtschwester gekommen war. Beinahe wär’s passiert, beinahe. Wieso eigentlich nicht?
Da, da schrie doch jemand. Rosalinde?
Lotta??! Wo bist du denn?? Himmelherrgott, Lotta, komm doch, wir schaffen es nicht, Lotta! Überall klingeln die Leute, ja hörst du denn nichts? Frau Wilhelm ist gestürzt!
Erschrocken riss Lotta sich los, wo war sie nur mit ihren Gedanken, am frühen Morgen, ein Übermüdungsanfall zu unpassender Zeit.
Oh Rosalinde, ich komm schon!
Sie lief los, hektisch wie ein Huhn, rannte über den Flur, hin zu Frau Wilhelm, bei der es klingelte, eine Klingel, zwei, drei, was wollten sie nur alle, was hatten sie denn, Lotta folgte Rosalinde und sah Frau Wilhelm eingeklemmt zwischen Toilettenschüssel und Wand auf dem Boden liegend.
Ist sie verletzt?
Nein, mir fehlt nichts, jammerte Frau Wilhelm.
Aber sie lag höchst unglücklich, eingekeilt, mit dicken Schenkeln, die Thrombosestrümpfe verrutscht, die Hose heruntergelassen, das Nachthemd am Bund eingerissen, der Katheterbeutel abgerissen.
Heiliger Gott! – Rosalinde schnappte sich das Ende vom Katheterbeutel und stöpselte ihn wieder auf die Leitung. – Frau Wilhelm – Sie sollen doch nicht alleine irgendwo hingehen …
Aber ich wollte doch niemanden belästigen, ihr habt doch immer so viel zu tun, da dachte ich, ich schaffe es auch alleine …
Aber Frau Wilhelm, Sie konnten doch ruhig klingeln …
Ich, … ich hab ja geklingelt, ganz lange schon …
Lotta und Rosalinde nahmen all ihre Kraft zusammen, um Frau Wilhelm aufzuhelfen, aber Frau Wilhelm wog neunzig Kilo und jeder Versuch war hoffnungslos. Rosalinde wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete schwer.
Hier muss einfach ein Mannskerl herbei. Der Ivy, wenn der wiederkommt, dann kann der gleich seine Sachen packen, dieser unzuverlässige – hier, wisch das mal auf.
Lotta versuchte, mit Toilettenpapier die Pfütze aufzusaugen.
Nimm den Zellstoff, das geht besser.
Sie hockten alle drei vor der Toilette auf dem Boden. Frau Wilhelm, Lotta, Rosalindes Gesicht war ganz nah. Ganz weiß. Ganz nah. Sie flüsterte: Lotta, wir schaffen es nicht. Wir schaffen das GANZE nicht.
Ihr Kopf sank herab und sie schüttelte ihn, die rotbraunen, dünnen Haare flogen müde hinterher. Frau Wilhelm stöhnte leise. Draußen fuhr scheppernd auf schweren Rollen der Frühstückswagen vorbei.
Sie bringen meinen Frühstückswagen, flüsterte Lotta ebenso. Ich muss doch für alle Frühstück machen … ich habe noch nicht gedeckt …
Rosalinde schaute noch immer wie versteinert. Dann griff sie in die Kittelschürze und holte das Funktelefon heraus.
Wen rufst du an?
Meinen Mann. Er hat frei. Er ist Koch. Er muss kommen, das Frühstück machen.
Wo wohnt ihr denn?
Zwei Straßen weiter … Abdul? Abdul, du musst mir helfen, hier bricht alles zusammen, bitte komm, bitte komm und mach das Frühstück, bitte …! … Ja, … ja … Viertelstunde, … ich danke dir.
Einen Augenblick wirkte Rosalinde wie erlöst. Sie atmete tief durch und legte den Kopf in den Nacken. -Gottseidank.
Vielleicht kann dein Mann ja helfen, Frau Wilhelm aufzuhelfen.
Wenn ich nur besser könnte mit den Beinen!
Wir versuchen es jetzt erst mal mit dem Lifta.
Ey, ich kann echt nix dafür , rief Ivy schon von weitem und warf seine Tasche ins Stationszimmer, ich hab in der Straßenbahn gesessen und schon eine Kurve weiter war ich im Tiefschlaf, ich bin einfach nicht mehr zu mir gekommen und erst in der dritten Schleife aufgewacht, weil
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