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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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passten, waren zertretene Mokassins, alle Hausschuhe würde sie verlieren, ihre Füße waren zu krumm.
    Jetzt – hier – irgendwie in den Rollstuhl. – Können Sie ein wenig mithelfen?
    Frau Schlecker konnte nicht. Sie zwinkerte mit den Augen und klammerte sich an Lottas Hals und hing daran wie ein Plumpsack.
    Keine Zeit, um Hilfe zu holen. Keine Zeit, jemanden nach Hebetechniken zu fragen. Frau Schlecker musste einfach nur in diesen Stuhl. Und Lotta holte Luft, presste die Zähne zusammen und in einer einzigen, übermenschlichen Anstrengung hob sie Frau Schlecker hoch und wuchtete sie in den Rollstuhl. Lotta hatte sich links unterm Schulterblatt einen Muskel gezerrt, Mist, egal.
    Gottseidank, Frau Schlecker war schon mal aus dem Bett. Aber sie war noch nicht gekämmt. Egal. Lotta fuhr ihr mit fünf Fingern durch die Haare, fertig frisiert. Das Gebiss! Wo war das Gebiss? Nirgends. Einfach verschwunden, die Zahndose war leer. Dann musste es eben ohne gehen. Griesbrei zum Frühstück, auch gut.
    Mir ist schlecht.
    Ja, ja, dann holen Sie mal tief Luft.
    So. Frau Schlecker raus in den Speisesaal. Hinstellen, an den Tisch.
    Jetzt. Nächste. Einen Augenblick durchatmen, Lotta spähte um die Ecke. Lotta drückte die nächste Tür auf: Frau Wissmar. Die Personalchefin der Degussa. Bestimmt musste sie heute Morgen wieder arbeiten gehen, oder in die Schule. Oder in den Kommunionsunterricht.
    Frau Wissmar, flüsterte Lotta. Frau Wissmar!
    Frau Wissmar rührte sich nicht. Zum bitteren Ende erstarrt, zu hölzernem Gebein verwachsen, kein Lebenszeichen.
    Frau Wissmar! Ungeduldig ruckelte Lotta an ihrem Arm und der ganze Körper geriet in Bewegung, bis endlich, aus ihrem tiefen Inneren heraus, etwas sich rührte, und aus dem trockenen Körper heraus ein überaus heller Blick auf Lotta fiel. Sie schloss die Augen wieder. Ihre Züge wurden weich und verklärt. Und während Lotta ihr panisch mit dem nassen, warmen Waschlappen das Gesicht wusch, murmelte Frau Wissmar nur:
    Wie wunderbar, so wunderbar.
    Lotta hielt inne.
    Was? Was ist wunderbar?
    Es … es war so schön …
    Lotta rieb ihr das Gesicht trocken und öffnete das Nachthemd.
    Was denn? Was war so schön? Haben Sie geträumt?
    Ich habe getanzt, ich habe die ganze Nacht getanzt!
    Aber wo denn, Frau Wissmar?
    In … in einem schönen Hotel, und das Hotel war über und über erleuchtet … so hell … so viel Licht! Und die Menschen, sie waren so überaus elegant angezogen, die Damen … so schön …
    Frau Wissmar war so glücklich, dass sie nicht merkte, wie Lotta ihr linkisch die Hose auszog und sie wusch und windelte, sie versank im Kopfkissen und lauschte ihren Träumen nach.
    Und mit wem? Mit wem haben Sie getanzt?
    Mit dem … mit dem ältesten Mann hier. Mit dem ältesten Mann, den es gibt. Habe ich getanzt. Die ganze Nacht. Es war so wunderbar … und alles so hell, diese Kronleuchter überall …
    Lotta warf die volle Windel in den Eimer, wusch die Waschlappen aus und hängte die Handtücher weg.
    Das ist schön, dass Sie so wunderbar getanzt haben.
    Bitte, sagte Frau Wissmar. Ich möchte heute nicht aufstehen, ich möchte liegen bleiben.
    Aber Frau Wissmar, Sie müssen doch arbeiten gehen!
    Arbeiten?, flüsterte sie. Das ist lange her, ich kann schon lange nicht mehr arbeiten gehen, ich bin jetzt eine alte Frau. Bitte, ich möchte liegen bleiben.
    Vielleicht … vielleicht können Sie ein wenig bei mir bleiben?
    Oh, oh, … ausgerechnet heute … Lotta pustete sich die Strähnen aus der Stirn, ausgerechnet heute war das Haarband so schwach und die Haare fielen dauernd auseinander, Mensch, warum war Ivy bloß nicht gekommen? Sie hatte doch auch nur drei Stunden geschlafen.
    Ich muss leider noch ganz viele Leute waschen und das Frühstück austeilen, ich komme aber später mal wieder, es tut mir echt leid! Wirklich!
    Und sie nahm die Abfalltüte mit der Windel, sprintete hinaus und überließ Frau Wissmar ihrem ewigen Tanz. Hoffentlich schlief sie schnell wieder ein.
    Viertel nach sieben. Lotta war klatschnass geschwitzt. Nun hatte sie zwei Leute versorgt. Jetzt waren es nur noch achtzehn. Zwei davon versorgten sich selbst – da waren es nur noch sechzehn. Acht davon übernahm Rosalinde. Da waren es für Lotta auch nur noch acht. Zwei davon hatten Dauerkatheter und erhielten künstliche Nahrung. Damit kam Lotta nicht zurecht, die durfte sie nicht machen. Waren es nur noch sechs Leute. Vier davon waren Männer, Lotta hatte noch nie einen erwachsenen Mann gewaschen,

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