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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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und ließ zu, dass Ivy sich noch einige Male irrte, was Mann und Frau betraf, er hatte schon so viel getrunken, aber das tat seiner Schönheit keinen Abbruch und was sollte es schließlich, es ist doch ganz gleich, wen wir lieben, sang Zarah Leander und Zarah kannte das Leben, es ist doch ganz gleich, wen wir lieben, … die andern, die scherte es nicht.

Binden über Binden   sanken zu Boden, kringelten sich ineinander und fielen zu einem rosa-hautfarbenen Knäuel zusammen. Schwester Rosalinde türmte die Binden auf einen Sessel und beugte sich über Herrn Wickerts Beine.
    Immer so früh das Licht anmachen, schimpfte Wickert und rieb sich die roten Augen.
    Sonst sehe ich doch nichts, sagte Rosalinde.
    Sie nahm die Pinzette, zog die alten Tamponaden von gestern aus der Wundlöchern und legte sie in eine Nierenschale.
    Aua, sagte Herr Wickert, nahm seine groben, dicken Hände und wollte in den Wunden kratzen.
    Herr Wickert! Finger weg, Sie machen alles noch schlimmer!
    Sie schob seine Hände weg und beugte sich wieder über die Kraterlandschaft in seinen Beinen, schwarzes, nekrotisches Gewebe wechselte mit blutigen Löchern und gelbgrünen Sekreten, die Beine sahen nicht besser aus als gestern und gestern sahen sie nicht besser aus als vor einem Jahr. Jeden Tag dasselbe und diese Verbände durften nur von einer examinierten Kraft gemacht werden. Rosalinde war wieder um sechs Uhr gekommen, nur um Herrn Wickerts Beine zu machen. Sie brauchte nachher zwei Stunden, um sich von dem Gestank zu erholen, darum fing sie immer mit den brandigen Wunden in seinem Fleisch an, damit sie das Schlimmste hinter sich hatte. Unendlich ruhig war es auf der Station. Die Nachtschwester hatte sich einen Augenblick hingesetzt, niemand schellte, alles war wunderbar still. Rosalinde nahm die Pinzette und hob das nekrotische Gewebe hoch und schnitt es unter der Oberfläche mit eine winzigen Schere nach und nach vom noch lebendigen Fleisch, sie tauchte einen Tupfer in Kochsalzlösung und wusch den Eiter aus den Wunden, die Beine waren faulig von den Schienbeinen bis zu den Fesseln.
    Puh, sagte Rosalinde und versuchte, nur durch den Mund auszuatmen, wünschte sich, sie könnte den Gestank fortblasen, irgendwohin, wo ihn kein Mensch mehr wahrnahm. Der Geruch war unbarmherzig, pestilenzartig, durchdringend. Gott hatte Rosalinde den Ekel genommen und den  Geruchssinn:  Sie konnte Windeln wechseln und Erbrochenes aufwischen, sie konnte Fäkalien beseitigen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bei Herrn Wickerts Beinen hatte Gottes Allmacht ein Ende. Rosalinde musste sich bezwingen, um keinen Brechreiz zu bekommen. Als sie die tiefen Löcher in den Beinen gesäubert hatte und den Rest mit Kompressen ausgewischt, schnitt sie aus dem sterilen Vlies von Calciumalginat passende Stücke aus und legte sie in die offenen Krater des zerstörten Gewebes. Kompressen darüber, festkleben und die Beine wieder zuwickeln. Rosalinde atmete tief, sehr tief, morgen wollte sie einen Mundschutz nehmen, und sie presste die Luft aus geschlossenen Lippen wieder heraus.
    Wickert, der alte Henningergaul, fing an zu singen:
    Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang! Wir leben nicht mehr lang, wir leben nicht mehr lang!
    Pschpschpsch … machte Rosalinde. – Hier schlafen doch noch alle.
    Ich nicht, sagte Herr Wickert.
    Sie können sich ja noch mal hinlegen.
    Hm, murrte Wickert.
    Rosalinde nahm die Nierenschale und die alten Binden und trug alles hinaus.
    Ein langer Gang, auf dem sie die Stille hören konnte, die Stille wurde auf einmal bedrohlich. Rosalindes Herz schlug schneller. Wieso war da niemand? Sie blickte auf die Uhr: zehn vor sieben. Sie schaute in den Personalraum – keine Taschen, keine Jacken, nichts. Nur die Nachtschwester saß im Stationszimmer, die Arme lagen ausgebreitet auf dem Sofa, der Kopf auf dem Polster, eine erschöpfte Nachteule. Ihre Kaffeetasse hatte innen einen schwarzen Rand, ihre Häkelarbeit lag unberührt in ihrer Tasche, die Zeitungen hatte sie nicht aufgeschlagen.
    Wo sind die alle? Wo?
    Die Nachtschwester rappelte sich hoch. Keine Ahnung, hat noch keiner angerufen. Rosalinde sah auf den Dienstplan:
    Kevin, Ivy – dann Lotta, aber die zählte ja nicht als Pflegekraft.
    Mona, was mach’ ich denn? Was mach ich denn? Wo bleiben die denn nur?? Fiebrig suchte Rosalinde nach dem Telefonbuch und wählte eine Nummer nach der anderen.
    Ach so, der Kevin hat angerufen, ist krank. Erkältung oder so. Ich mach mal Übergabe: Der Alwis hat das

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