Die letzten Dinge - Roman
ein wenig aufhalten. Bis alles schön geworden war und Frau Wissmar sich wohl fühlen konnte.
Dieser dicke Stumpen mit dem goldenen Alfa und Omega. Vielleicht sollte sie erst mal beten. Dann sah man weiter. Lotta nahm einen Stuhl und zog ihn näher ans Bett.
Frau Wissmar lag eingerahmt im weißen Gitter wie in einem Kinderbettchen, einem Prinzessinnenbettchen, nur die roten Rosen fehlten.
Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck! Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
Das war Lottas erstes Gebet.
Dann suchte sie die Worte im katholischen Gebetbuch. Worte, die ihr richtig erschienen, es musste doch richtige Worte geben für diese Stunde.
Sie blätterte und blätterte, dann fand sie auf Seite 365 ein Sterbegebet. Lotta räusperte sich und dann las sie halblaut:
Bevor ich geboren ward, kanntest du mich. Nach deinem Bilde, oh Herr, formtest du mich. Dir meinem Schöpfer will ich meine Seele wiedergeben. Was ich begangen, oh Herr, das schrecket mich, und beschämt stehe ich vor deinem Angesicht.
Lotta hielt ein. Ihr Blick wanderte die Seite hinab. Vielleicht waren das die richtigen Worte:
Kommet zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes,
eilet entgegen, ihr Engel des Herrn.
Nehmet auf ihre Seele.
Dann las Lotta die folgenden Worte:
Erneuere in ihr, gütiger Vater, was immer durch irdische Gebrechlichkeit oder durch des Satans Trug verdorben ist!
Ach nein. Lotta klappte das Buch wieder zu. Frau Wissmars durch Satan verdorbener Leib! So ein Unsinn. Dann betrachtete sie die alte, schlafende Dame zärtlich. Ihr Leib war verdorben, das war schon richtig. Die dunkel gewordene dünne Haut, so dünn, dass die Anatomie darunter sichtbar wurde, die blass schimmernde, durchsichtige Haut, die bei jedem leichten Griff zerriss, das Blut darunter floss seit langer Zeit nur blau, die Flüsslein flossen langsam und zäh, verspreizten sich noch in kräuseligen Fäden, bildeten hier und da unterirdische Seen. Es schien still zu stehen, das Blut. Frau Wissmars Beine waren dünn und vertrocknet, wie an der Sonne gedörrt, und die krummen Füße hatten seit Jahren keine Schritt mehr vor den anderen gesetzt und diese Schließmuskeln vor dem Steiß waren längst schon außer Betrieb, und das restliche Fleisch an ihrem Körper hatte sich an ihren Leib gezurrt, hatte sich um die Knochen gezogen und verkümmerte dort. Weich an ihr war nur noch der untere Rücken, das schwache Polster auf den Beckenschaufeln, die weiße, weiche Fläche, die an den Körper der früheren Jahre erinnerte, als noch nicht die Schulterblätter wie hohle, knöcherne Flügel aus dem Rücken standen, weich war noch das Ohrläppchen, sonst nichts mehr, der Körper war verdorben.
Aber war das Satans Schuld? Oder hatte Gott seine Schöpfung nicht zu Ende gedacht? Wer konnte das wissen? Vielleicht musste man an Gottes Stelle ein wenig weiterwirken. Aushelfen, an der Schöpfung ein wenig flicken. Tun, was Gott versäumt hatte.
Lotta bekreuzigte sich. Sie betastete vorsichtig Frau Wissmars wächserne Stirn. Es schien noch zu pochen dahinter. Kaltes Fieber. Lotta rieb sich die Hände, weil sie sich ein wenig vor dem klebrigen Schweiß ekelte, am besten, sie wusch sich die Hände im Bad. Danach ging sie im Zimmer auf und ab. Betrachtete das Porzellanpferdchen auf dem Fernseher, das tapfer einen Karren voller Plastikblümchen zog. Sah den »Aktenschrank«, den Frau Wissmar sich aus alten Papieren der Station gebastelt hatte. Frau Wissmar hatte unentwegt gearbeitet, bis in das 96. Lebenjahr. Lotta sah durch die angelehnte Tür die feinen Chanelkostümchen hängen. Aus diesem Schrank hatte die Nichte die Pelze geklaut. Bevor Rosalinde sie rausgeschmissen hatte.
Was nun? Lotta erlahmte in ihren Bemühungen um die Sterbende. Das Sterben dauerte so lange wie das Gebären. Es war mühsam. Es war etwas für die Sanften und für die Langmütigen. Morgen hatte sie Frühdienst. Sie kam ins Wanken. Sollte sie nicht doch lieber gehen? Was hatte sie hier verloren. War das überhaupt alles recht, was sie hier machte?
Da fiel ihr Blick auf das Fläschchen Rosenöl. Wenigstens … wenn sie ihr wenigstens … irgendeinen anständigen Abschied bereiten könnte? Das Öl, das Öl, eine Ölung? Lotta war drauf und dran. Aber durfte man das denn einfach so? Nein, das durfte niemand, nur ein Priester. Auf der anderen Seite war aber auch keiner da und irgendeiner musste es ja machen und es sah sie ja auch keiner. Wenn sie schon so
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