Die letzten Dinge - Roman
schönes Rosenöl hatte. Rosenöl war gut.
Lotta bekreuzigte sich. Der Herr hatte ihr nun diese Aufgabe gegeben und sie fühlte sich mit einem Mal ermächtigt. Sehr ermächtigt. Warum auch nicht. Irgendein heiliger Akt musste noch begangen werden, beschlossene Sache, und gewiss gab es im Gebetbuch eine Anleitung dafür. Also nahm sie jetzt doch die Sterbekerze, stellte sie auf den Nachttisch und zündete sie an, versuchte es noch mal. Sie öffnete das Gebetbuch und schlug die Seite auf mit der Überschrift: Letzte Ölung. Sie las:
Die fünf Sinnesorgane werden mit dem heiligen Öl gesalbt. Durch die Sinne strömt das Leben ein und aus, das vergängliche Leben und das ewige Leben, Gutes und Böses. Diese Pforten des Lebens müssen jetzt verschlossen werden und die Augen, Ohren, Nase, Mund, Hände und Füße werden gesalbt, damit die Gnade Christi heile, was an diesem Tempel des Heiligen Geistes durch die Sünde verdorben ist.
Schon wieder. Die katholische Kirche liebte das Wort: verdorben. Nun, ein anderes Ritual hatte Lotta nicht. Also nahm sie dieses. Wattetupfer sollte man nehmen. Aber sie hatte nur Zellstoff da, das ging auch. Lotta stellte das leuchtende Jesusbild mit Maria auf, holte die Apfelkerzen näher heran und machte einen hübsch geschmückten Kreis aus Licht und Duft und Weihwasserschälchen und Blümchen und Bildchen. Dazu stellte sie noch die Fotografie von Charlotte Wissmar, als sie jung war und dieses Audrey-Hepburn-Kostüm trug, in Schwarzweiß, mit Hut, irgendwo unten am Main, man sah das Wasser vorüberfließen. Lotta schluckte. Sie nahm das Holzkreuz und kam sich einen Augenblick lang vor wie ein Exorzist. Legte das Holzkreuz wieder hin und betupfte die Watte mit Rosenöl. Griff nach dem Gebetbuch, hustete und stand auf:
Fahre hin, christliche Seele, aus dieser Welt! … Im Namen Gottes, im Namen der glorreichen Jungfrau Maria und ihres erlauchten Bräutigams, des heiligen Josef, im Namen der Engel und Erzengel, im Namen der Throne und Herrschaften, im Namen der Fürstentümer und Mächte, im Namen der Cherubim und der Seraphim … Wenn also deine Seele den Leib verlässt, soll der Engel strahlende Schar ihr entgegeneilen, der weiß gewandeten Märtyrer Schar triumphierendes Heer dir entgegenkommen, die liliengleiche Schar der lichten Bekenner dich umgeben, der jubelnden Jungfrauen Reigen dich umfangen.
Lotta nahm das Zellstofftüchlein mit Rosenöl und betupfte damit vorsichtig Frau Wissmars geschlossenen Augenlider und las aus dem Gebetbuch:
Durch diese heilige Salbung und SEINE mildreichende Barmherzigkeit vergebe dir der Herr alle Sünden, die du mit deinen Augen begangen hast.
Lotta tropfte ein neues Tröpflein auf den Zellstoff und betupfte damit Frau Wissmars Ohren. Sie lag still und friedlich, als sei sie mit allem einverstanden.
Durch diese heilige Salbung und SEINE mildreichende Barmherzigkeit vergebe dir der Herr alle Sünden, die du mit den Ohren begangen hast.
Lotta betupfte den Mund und das Rosenöl hinterließ einen glänzenden Fleck auf ihren Lippen.
Durch diese heilige Salbung und SEINE mildreichende Barmherzigkeit vergebe dir der Herr alle Sünden, die du mit deinem Mund begangen hast.
Dann legte Lotta die Bettdecke zur Seite, berührte die Hände und die Füße mit dem Rosenöl. Und betete, dass der Herr ihr alle Sünden vergab, die sie mit den Händen und mit den Füßen begangen hatte.
Amen.
Lotta bekreuzigte sich und fing an zu heulen. Es war doch schwer.
Aber sie musste weiterbeten, sie hatte es versprochen. Wem eigentlich? Und doch wollte sie es, sie wollte es und konnte nicht aufhören und blätterte so lange weiter im Gebetbuch, bis sie auf die geistlichen Lieder stieß. Da schien ihr eines davon geeignet und sie sah Frau Wissmar noch einmal an und sprach dann halblaut vor sich her:
Tröster in Verlassenheit, Labsal voll der Lieblichkeit
komm, du süßer Seelenfreund!
In Ermüdung schenke Ruh,
in der Glut hauch Kühlung zu,
tröste den, der trostlos weint.
Wasche, was beflecket ist, heile, was verwundet ist,
tränke, was da dürre steht.
Beuge, was verhärtet ist, wärme, was erkaltet ist,
lenke, was da irre geht!
Heilger Geist, wir bitten dich, gib uns allen gnädiglich
deiner Gaben Siebenzahl.
Spende uns der Tugend Lohn,
lass uns stehn an deinem Thron,
uns erfreun im Himmelssaal.
Paris, um 1200
aus der Pfingstsequenz
»Veni Sancte Spiritus«
Amen, sagte Lotta. Wartete einen Augenblick. Bekreuzigte sich noch mal. Sah der still atmenden Frau Wissmar
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