Die letzten Dinge - Roman
Frau Wissmar so allein gelassen hatte in der Todesangst, die Dame, die gesiezt wurde bis zu ihrem letzten Atemzug. Lotta grübelte, ob sie Frau Wissmar nicht das Gebiss herausnehmen sollte. Es ragte so heraus aus dem eingefallenen Gesicht, als wollte Frau Wissmar in der letzten Stunde noch einen auffressen. Das sah nicht besonders gut aus. Daheim hatte sie gesehen, wie eine Nonne einer alten Tante ein Tuch unter den Kiefer gebunden hatte. Dann war der Mund schön verschlossen, das sah gut aus. Aber Frau Wissmar lebte noch und da konnte sie doch nicht … Es hieß auch, wenn die Zähne erst mal draußen sind, kriegt man sie nach dem Tod nicht wieder hinein und dann sieht der oder die Ärmste zu eingefallen aus. Lotta ließ lieber die Finger davon.
Da schien Frau Wissmar ein Laut zu entweichen. Oder ein besonders tiefer Seufzer. Oder war es ein Gurgeln? Lotta ging näher heran, es gurgelte in ihr, als hätte sich irgendwo im Hals noch ein Pfützchen gestaut, das nun herausgehustet werden musste, es klang wie eine Kaffeemaschine, die Kehle bewegte sich und die Sehnen spannten sich kurz an, sie blieb bei einem trockenen Hüsteln, dann war es wieder still. Der Atem ging weiter, die flache Brust hob und senkte sich kaum. Lotta hatte Angst, aus dem Zimmer zu gehen, Angst, im entscheidenden Augenblick nicht da zu sein.
Aber wenn sie die Nacht durchhalten wollte, dann brauchte sie eine bequemere Hose, diese kniff ihr in die Leiste, außerdem brauchte sie noch etwas zu trinken, der Saft war leer. Lotta verließ Frau Wissmar und ging die Treppen hinauf.
Sie wühlte in ihrem Zimmer nach einer schwarzen Vlieshose, zog sie an und holte sich eine Tüte Orangensaft aus dem Kühlschrank. Da sah sie eine dünne Sperrholzplatte hinter dem Schrank hervorlugen, ach so. Da hatte sie ihre Bilder deponiert. Einem Impuls folgend zog sie eines davon heraus: ein Glitzerjesus aus einem Schwulenladen. Sollte sie den nicht vorsorglich mitnehmen? Besser ein glitzernder Jesus als gar keiner. Und vielleicht eine Kerze? Sie hatte noch drei Duftkerzen, Apfel. Es war nicht ganz das, was einer Sterbenden zur Würde gereichte, aber es war doch gut, wenn sie eine Kerze aufstellte. Lotta packte alles in eine Jutetasche und dann verließ sie ihr Zimmer. Ihr war, als sei in der Kleiderkammer noch Licht. Aber als sie die Tür dort öffnete, war alles dunkel. Als hätte das Licht sich verzogen. Sehr komisch. Lotta sah schon Gespenster.
Lotta fiel die Sterbekerze ein. Sollte sie die Sterbekerze holen? Lotta schaute verstohlen nach ihrem Schlüssel, sollte sie bei Nacht in das Schwesternzimmer einbrechen? Aber was soll’s, es ging schließlich um Leben und Tod. Lotta nahm ihren Stationsschlüssel und öffnete das Zimmer, ging hinein und öffnete die Schublade. Als Lotta die Utensilien sah, packte sie einfach alles ein: die Sterbekerze, das Weihwasser, das Schälchen und das Holzkreuz. Auf dem Fläschlein lag Staub, im Weihwasserschälchen standen vertrocknete Ränder und Krümel lagen auch darin. Hier war schon lange niemand mehr gesegnet worden. Staubige Sterbekerze. Offenbar waren die meisten Bewohner ohne Segen abgerauscht.
Lotta packte heimlich alles ein und trug es auf leisen Sohlen davon.
Frau Wissmar atmete immer noch. Gottseidank. Es hatte sich nichts verändert. Lotta hatte den heiligen Moment nicht verpasst. Sie überlegte. Erst einmal musste sie hier alles schöner machen. Lieblicher. Wärmer. Und so zündete sie zunächst ihre Duftkerzen an und mit der Nachttischlampe verbreiteten diese eine sanfte Stimmung und ein schönes Licht und sogleich begann es zu duften nach Apfelbäumen und nach Spätsommer. Im Frühstückszimmer standen noch frische Schnittblumen! Lotta rannte fort und klaute die Schnittblumen. Die Nachtschwester merkte von alledem nichts, sie gondelte mutterseelenallein mit dem Pflegewagen über den Gang.
Lotta verteilte die Blumen zwischen den Kerzen. Musik vielleicht? Musik war doch schön. Sie kurbelte am Radio und suchte einen passenden Sender. Simon and Garfunkel. Das war wunderbar. Aber Frau Wissmar hätten bestimmt Heimatlieder besser gefallen, und so suchte sie so lange, bis sie auf Bayern 1 einige Chöre hörte. Sie sangen: Und wieder blühet die Linde.
Das war doch ganz schön. Lotta blickte zögerlich auf die Sterbekerze. Die Sterbekerze würde die Stimmung verderben mit dieser sakralen Ausstrahlung. Es war, als würde sie den Tod beschleunigen, wenn sie erst einmal angezündet war. Aber Lotta wollte das Sterben noch
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