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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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verließ und vielleicht in eine andere Welt ging, in die Raffael sie begleitete, wer weiß.
    Und einen Augenblick kam ihr zu Bewusstsein, dass der letzte Mensch an Frau Wissmars Bett jemand war, der nichts von ihr wusste, gar nichts. Hatte sie geliebt, gelebt, gelogen, betrogen? Hatte sie eine reiche Schar von Liebhabern gehabt oder lag sie hier als eine eherne Jungfrau, unberührt und ungeliebt ein Leben lang? Der Kadex von Frau Wissmar lag auf dem Tisch und heimlich öffnete sie diese letzte Akte im Leben der Personalchefin der Degussa. Wundversorgung, Visite, Hausarzt, Anamnese, Berichtsblatt … da, da stand es. Angaben zur Vita:
    Frau Wissmar wurde als erste Tochter eines Frankfurter Bankiers geboren im Jahr 1908. Im Ersten Weltkrieg verlor sie früh ihren Vater. Sie besuchte die höhere Handelsschule und arbeitete als Sekretärin zunächst bei Messerschmidt, verlobte sich 1938 mit einem Notar. Im Krieg wurde die Familie vollständig ausgebombt. Sie verlor ihre Angehörigen und ihr Verlobter fiel an der russischen Front. Seitdem lebte Frau Wissmar allein und wurde später Personalchefin der Degussa. Im Jahr 1996 zündete sie aus Versehen ihre Wohnung an, seither lebt sie als Bewohnerin im »Abendrot«.
    Lotta schloss den Kadex wieder. Legte ihn auf den Tisch. Griff nach ihrem Buch und las »Die Nomadentochter«. Las und las und blickte immer wieder auf zum Bett, versuchte ab und zu, Frau Wissmar noch etwas Wasser einzuflößen, aber sie trank nichts. Dann setzte Lotta sich wieder hin. Um halb neun fielen ihr die Augen zu, es war ein harter Tag gewesen. Die Müdigkeit setzte sich durch. Als sie wieder erwachte, sehr klar, sehr frisch, als sei sie aus einem tiefen Brunnen gestiegen, sah sie als Erstes zu Frau Wissmar hin. Diese röchelte vor sich hin, atmete also noch, wenn auch schlecht und schwerfällig. Die Nachtschwester sah kurz herein.
    Ah, du bist also da? Na gut, von mir aus. Dann muss ich mich nicht kümmern. Wenn du gehst, sagst du aber Bescheid, Nadjeschda hat schon gesagt, sieht nicht gut aus.
    Ja, ich bleibe noch.
    Du bist doch bekloppt, dich an Feierabend noch hier hinzusetzen, du hast doch morgen wieder Frühdienst.
    Ja, das stimmt, aber es ist eine entfernte Tante von mir.
    Ach so. Na, dann mach’s mal gut.
    Die Nachtschwester rauschte ab und Lotta ärgerte sich, dass sie eine Ausrede erfunden hatte, weil sie bei einer Sterbenden bleiben wollte. Als sei das etwas Seltsames oder Fremdartiges oder Unnützes. Man durfte doch einem Menschen die letzte Ehre erweisen, oder? War doch im Bereich des Möglichen. Und überhaupt. Eigentlich musste man doch was tun, um das Ganze … etwas … andächtiger zu begehen. Eine Zeremonie, ein weihevoller Abschied. Es war doch nicht irgendwas, dass ein Mensch sein Leben beendete. Man musste doch etwas tun, diese Feier des Lebens mit einer Feier beenden, damit irgendjemand das Gefühl hatte, dass es wertvoll gewesen ist, dass sie, Frau Wissmar, dagewesen ist.
    Andacht, das war schon das richtige Wort. Da gab es doch Schriften, da gab es doch Anleitung. Hatte denn die Station kein Gebetbuch irgendwo? Doch, hatte sie. Als Lotta die Schränke auf der Station ausgewaschen hatte, da hatte sie mal eine Schublade aufgezogen mit einer Kerze, einem Kreuz, einer Schale, einer Flasche Weihwasser und einem Gebetbuch. Beten musste man, auch wenn man es eigentlich gar nicht konnte, auch wenn man schon zehn Jahre keine Kirche mehr von innen gesehen hatte. Vielleicht sollte Lotta das Gebetbuch holen. Konnte doch nicht schaden. Aber wie ging es Frau Wissmar jetzt? Es war elf Uhr.
    Frau Wissmar atmete und atmete und sonst geschah nichts. Außer dass ihre Haut sich zu verfärben schien, gelber wurde und seltsam klamm. Lotta zog ihr die Decke höher und fasste sie am Arm, der Arm war irgendwie klebrig. Tante Mathilde hatte früher gesagt: das ist der Todesschweiß. Lotta fasste noch einmal unter der Bettdecke nach den Beinen: eisig. Kalt bis über die Knie. Es wurde Lotta nun schwer, Frau Wissmar tröstend zu berühren. Der gelbliche, zähe Kaltschweiß gruselte sie. Ein Rosenkranz, durchfuhr es sie, einen Rosenkranz musste man doch beten. So hatten sie es daheim gemacht. Auf dem Dorf. Oder sollte man um zwölf Uhr nachts doch noch einen Priester rufen?
    Aber sie traute sich nicht, sie war doch nur Stationshilfe und sie hatte keine Befugnis und sie hatte sich hier mit einer Halbtoten eingesperrt, ob sie eigentlich noch ganz dicht war? Und doch musste sie die Stellung halten, weil sie

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