Die letzten Dinge - Roman
zu, dann ging sie zurück zum Sessel und plumpste hinein. Sie war völlig erschöpft. Ob denn Engel im Raume waren? War es heller als sonst? Geschah hier irgendetwas Mystisches? Die Gardinen wehten leicht, das Kerzenlicht flackerte, wenn sie nicht alles trog, war es besonders still und freundlich, das Gefühl, dass alles irgendwie gut war. Lotta verspürte mit einem Mal Freude. Und dann wieder Reue. Hatte sie wirklich ein Ritual veranstalten müssen, das nur einem Priester vorbehalten war?
Wenn es nicht dauernd von Schuld gesprochen hätte.
Das Rosenöl war hübsch gewesen. Aber noch die ganzen Verbrechen der Welt auf Frau Wissmars krummen, armen, klapprigen Rücken zu laden, und das als letzte Mitgabe auf seinem Weg in den Himmel oder in die Hölle.
Das war nicht recht. Lotta sah auf die Uhr. Halb zwei Uhr nachts. Die Zeit wollte nicht vergehen.
Lotta ging noch einmal zu Frau Wissmar. Legte ihr die Hände zusammen und stellte den Spitzenkragen vom Nachthemd schön auf, kämmte das Haar.
Adieu, sagte Lotta, gute Reise.
Dann legte sie sich in den Fernsehsessel, deckte sich zu und fiel auf der Stelle in einen tiefen Schlaf. Das Radio aber dudelte weiter und sang vom schönsten Wiesengrunde, von tiefen Tälern und blauen Himmeln, von rauschenden Flüssen und klappernden Mühlen und Brunnen vor dem Tore, vom Lenz und vom Frühtau und vom Abendwind und es spielte und sang und fiedelte munter die ganze, liebe, lange Nacht.
Die Welt wollte sich nicht beleben. Die Bäume standen still und die Sonne ging nicht auf und nur ein Lüftchen segelte einmal über einen Busch hinweg. Das war die einzige Regung. Die Stunde war und blieb bläulich. Auf den Wegen ging kein Mensch. Es regnete kein Tropfen vom Himmel, kein Vogel pfiff. Diese ungemütliche Stunde hatte Gott erfunden, um sich einmal hinzulegen. In der allerfrühsten Stunde schlief Gott selber. Darum war es so kalt überall. Nur wenn Gott schnarchte, erhob sich vielleicht irgendwo in einem Hunsrückhöhendorf der Wind. Wenn Gott sich einmal umdrehte, fiel irgendwo eine Krankenschwester aus dem Bett. Und wenn Gott hustete, blitzte die Sonne einmal über den Hügelrand vom Taunus. Aber die Betäubung über dem Land war so stark, dass nur die allergequältesten Gestalten es schafften, aus dem Bett zu kommen und zur Arbeit zu gehen. Der Rest der Schöpfung blieb unter allen Umständen liegen.
Rosalinde war nicht liegen geblieben , denn sie stand früher auf als der liebe Gott. Schon bevor er im Schlaf gehustet hatte, war sie erwacht und hatte sich gewaschen und angezogen, ohne darüber nachzudenken, war durch die Stadt getrottet und hatte das »Abendrot« aufgeschlossen. Unchristliche Stunde. Verbrecherische Stunde. Aber ein Mensch auf der Erde musste ja anfangen, wieder Leben in die Welt zu bringen, irgendeiner musst es sein.
Sie war die Treppen hinauf auf die Station gegangen und ihr erster Gedanke galt Frau Wissmar. Sie zog den Mantel aus und legte ihn in das Stationszimmer, sah kurz auf die Uhr, streifte ihre Birkenstock an und ging beunruhigt über den Flur. Klopfte und öffnete in einem und machte das Licht an.
Was ist denn hier los?
Rosalinde sah Lotta halb zugedeckt im Fernsehsessel von Frau Wissmar liegen und im ganzen Zimmer verstreut standen Kerzen und Blumen aus dem Frühstückssaal, ein glitzernder Jesus stand auf dem Nachttisch, es roch nach Apfel und nach Rosen, im Radio spielte leise: Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut.
Die Sterbekerze brannte. Frau Wissmar war tot.
Einen Moment lang zitterten Rosalinde die Knie, sie fasste das weiße Bettgitter an und machte es herunter, zog sich einen Stuhl herbei und musste sich erst mal setzen. Jetzt auch noch Frau Wissmar, sie hatte es geahnt. Gewußt, im Augenblick, als heute früh erwacht war. Sie wusste es immer, wenn jemand ging.
Lotta kam verdattert zu sich.
Ach, ist sie tot? fragte sie erschrocken.
Sie rappelte sich aus dem Fernsehsessel und wankte mit aufgelöstem Haar und zerknittertem Hemd näher. – Ich … ich habe nur bei ihr bleiben wollen, weil sie doch so allein war …
Ach du je. Hast du hier die ganze Nacht gesessen …? Na, das ist ja …
Rosalinde fehlten die Worte. Lotta war bleich, beinahe so bleich wie Frau Wissmar. Die beiden schauten stumm in das erloschene Gesicht, das verlassen war und niemals mehr der Seele gestattete, hineinzufahren und die Wimpern zum Blinzeln zu bringen.
Na, geh erst mal dich waschen und umziehen und trink einen Kaffee, dann kommst du wieder.
Einen
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