Die letzten Dinge - Roman
Geldbeutel.
Schneller, sagte sie zu ihrem Bruder. – Schneller, ich habe es eilig!
Wie denn?, sagte er. – Vielleicht stehen wir an der Kasse in der Schlange?
Aber dann, dann schnell zum Auto.
Ich dachte, du wolltest noch Pommes holen?
Nee, vergiss es, ich muss sofort zurück.
Auch noch Ansprüche.
Ja, aber …
Ein Honigmond stand über der Erde und gelegentlich zogen Wolken über ihn, der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen, und wie viele Kinderlieder noch. Weißt du, wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt. Weißt du, wie viel Brünnlein fließen, weithin über alle Welt. Gott der Herr hat sie gezählet, damit nicht eines fehlet.
Vielleicht fehlte Frau Wissmar bald, vielleicht brauchte Gott sie dann nicht mehr mitzuzählen. Guter Mond, du gehest so stille in der Abenddämmerung.
Lotta schloss die Gardinen.
Geht schlecht, sagte Nadjeschda. – Uui, Frau Wissmar. Uuui.
Frau Wissmar atmete, sie bewegte ihre Hände, sie hatte das Kinn emporgereckt und der Mund stand halb offen. Auf der Stirn klebten die ausgebleichten rotbraunen Ponyhaare mit dem zentimeterbreiten grauen Haaransatz. Die Augenbrauen bildeten immer noch einen schönen dunklen Bogen, die Wimpern staken kurz, aber dicht über die helle Haut, sie waren das Einzige, das noch glänzte an ihr und erzählte, wie schön Frau Wissmar einmal gewesen war. Von Zeit zu Zeit fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht, blieb mit den Fingern in den Nasenlöchern hängen, zog die Hand dann über die Augen und ließ sie dann wieder auf die Bettdecke sinken. Auf der Bettdecke war ein nasser Fleck, sie hatten versucht, ihr Wasser zu geben, es war wieder aus dem Mund gelaufen. Frau Wissmar. War das noch Frau Wissmar?
Frau Wissmar? Frau Wissmar? Können Sie mich hören, Frau Wissmar?
Keine Antwort. Kein Laut. Das unstete Bewegen der Hände setzte sich fort. Lotta stellte sich daneben, sah ihr zu, fing eine Hand ab und hielt sie fest, aber es bedeutete Frau Wissmar nichts mehr, die Hände spreizten sich nicht mehr, sie suchten niemanden, sie wollten nicht mehr festhalten und sie empfanden keinen Trost. Vorbei. Lotta war zu spät.
Aber wer wusste denn, dass eine Seele sich so schnell davonmachte, so schnell verschwand? Hätte sie nicht warten können bis zum Abend? Ach Mensch. Lotta fühlte sich schuldig und sie konnte es nicht ändern und so beschloss sie, bei ihr zu bleiben. Sie hatte sich ein Buch mitgebracht und eine Wolldecke. So wie in alten Filmen, Frau Wissmar hatte einen schönen Fernsehsessel mit Spitzendeckchen, darin wollte sie an ihrer Seite die Nacht verbringen. Das war sie ihr schuldig. Lotta hoffte, dass Frau Wissmar sie vielleicht von irgendwo noch spüren konnte und sich nicht so gottverdammt alleine fühlte, als es mit ihr zu Ende ging.
Ach, kann nichts mehr machen, Frau Wissmar.
Nadjeschda fasste ihre Wangen und schüttelte den Kopf sacht hin und her.
Noch ein wenig Wasser, Frau Wissmar.
Und sie nahm den Schnabelbecher und setzte ihn am Mund an, hob ihn vorsichtig, aber schon beim ersten Tropfen Flüssigkeit schien Frau Wissmar zu ertrinken, sie würgte, sie rang nach Luft, sie röchelte, das Wasser lief über ihr Kinn.
Da zog Nadjeschda eine Plastikspritze mit Wasser auf und füllte sie Tropfen für Tropfen in ihren Mundwinkel. Sie nahm einen glyceringetränkten Tupfer aus der sterilen Verpackung und reinigte ihren verkrusteten Mund, tupfte sorgfältig die Mundhöhle aus und strich ihr schließlich über die Stirn.
Frau Wissmar. Was machen? Hm?
Ich kann bei ihr bleiben, sagte Lotta. – Kannst du auch der Nachtschwester sagen, ich bleibe noch da.
Joo, gut. Guckst du Frau Wissmar, Frau Wissmar nicht gut. Kannst du hier bleiben. Vielleicht hilft. So, ich muss gehen, Spritzen geben.
Lotta nickte ehrfürchtig und Nadjeschda rauschte in ewig gleich bleibendem Tempo aus der Tür.
Lotta wartete noch einen Moment unschlüssig, dann machte sie es sich bequem. Räumte den Fernsehsessel frei von Brokatkissen, Spitzendeckchen und dem Nachthemd zum Wechseln, stellte Orangensaft und ein Glas daneben und probierte den Fernsehsessel aus. Er fuhr wunderbar nach hinten und hob ihr die Füße in die Luft, sehr bequem, aber es war auch irgendwie Frau Wissmars Stuhl und daher traute sie sich nicht, sich allzu bequem auf ihm einzurichten. Man musste so was wie Würde bewahren.
Etwas Ehrfurcht, etwas Respekt. Wer weiß, welcher Moment ihnen bevorstand, vielleicht ein heiliger Moment, der, in dem ein Mensch das Dasein
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