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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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zuvor gewesen war. Er glaubte zwar, erkennen zu können, wenn IdrisPukke bluffte, aber heute hatte er nur allzu überzeugend geklungen. Andererseits wusste er, was IdrisPukke nicht wusste, nämlich dass sich die Lakonier endlich bereiterklärt hatten, gegen die Golanhöhen vorzurücken. Wenn die Erlöser und ihr ungeheuerlicher Halbwüchsiger erst einmal einen echten Kampf gegen diese mörderischen Kinderschänder aus Lakonien hinter sich hatten, konnte er, Ikard, immer noch in Ruhe entscheiden, ob sie für die Schweiz eine echte Bedrohung darstellten oder nicht. Bis dahin konnte IdrisPukke Däumchen drehen und ein Liedchen pfeifen– und sein mörderischer Jüngling ebenfalls.
    In jeder noch so kleinen Buchhandlung findet man hundert Bücher über die Flucht der Materazzi nach dem Fall von Memphis: phantastische, magische, mystische, historische, reißerische, elegant mythische, brutal tragische, schlichte, gradlinige, von dunklen Geheimnissen umwitterte, blutige, leidensvolle Darstellungen– und in allen liegt irgendwo ein Körnchen Wahrheit verborgen. Nur ein Zehntel dieser Wahrheiten erzählen zu wollen wäre unerträglich langweilig, denn in jenen Zeiten der bitteren Kälte und Entbehrungen verschwimmen bald alle Unterschiede zwischen der einen und der anderen entsetzlichen Geschichte. Das mag furchtbar klingen, aber es ist so. So hatten die viertausend Flüchtlinge schlimme Zeiten durchlitten, bis sie, nur noch halb so viele Köpfe zählend, endlich Spanish Leeds erreichten, wo ihnen ein Willkommen bereitet wurde, das nicht viel wärmer ausfiel als die Kälte, die sie auf ihrer Flucht hatten ertragen müssen.
    »Nun?«, fragte Vipond, als IdrisPukke durch das erst kürzlich von allen Juden verlassene Jüdische Ghetto zurückging. Der Oberrabbiner hatte entschieden, dass die Erlöser immer mächtiger würden und dass es daher höchste Zeit sei, so große Distanz zwischen sie und seine Glaubensgemeinschaft zu bringen, wie es überhaupt nur möglich war– und das hieß: so weit weg, dass sie mit jedem weiteren Schritt praktisch schon wieder auf dem Rückweg gewesen wären.
    IdrisPukke fasste das Gespräch für seinen Halbbruder zusammen.
    »Wird er mich empfangen?«
    »Nein.«
    »Um bei der Wahrheit zu bleiben– würde ich auch nicht an seiner Stelle.«
    »Ihr großen Weltenlenker«, spottete IdrisPukke, »so kleinlich…«
    »Wird er dich vielleicht noch einmal empfangen?«
    »Das kommt drauf an. Du kennst doch diese Art von Mensch– immer wollen sie dir klarmachen, dass sie mit dir spielen können wie mit einer Marionette.«
    »Sozusagen.«
    »Er ist nicht sicher, was er als Nächstes tun soll, trotz all seiner Einbildung. Aber er will auf jeden Fall, dass ihr aus seiner Stadt verschwindet. Sich auf die Güte des alten Schurken Zog zu verlassen stellt keine Garantie dar.«
    »Das stimmt.«
    »Was, glaubst du, wird Cale jetzt tun?«
    »Was kann er schon tun, außer warten? Ikard hat fast alles aufgeboten, was er an Truppen zur Verfügung hat. Cale und Vague Henri stehen sechshundert Meilen von antagonistischen Schützengräben gegenüber, außerdem einer zweihundert Meilen langen Grenze, die von höchst nervösen Schweizer Grenztruppen bewacht wird. Der wird bleiben, wo er ist, vermute ich.«
    Es klopfte an der Tür, die sofort von außen geöffnet wurde. Ein Wärter geleitete voller Ehrerbietung und Dienstbeflissenheit Arbell Materazzi in den Raum. Sie mochte gut und gern die letzte Herrscherin der Materazzi sein, eines Volks, das so stark geschrumpft war, dass es kaum noch etwas zu beherrschen gab, aber wenigstens trat sie immer noch wie eine Königin auf. Sie wirkte gereift und noch schöner, denn all das Leid hatte ihr eine Aura grauer Macht verliehen. Innerhalb weniger Monate hatte sich alles verändert, ihre Welt war vernichtet, ihr Vater tot, und unter den überlebenden Materazzi war sie die Herrscherin, außerdem verheiratet mit ihrem Cousin Conn– und hochschwanger.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
     

    V
ier weitere Tage vergingen, bis sich die Lakonier endlich in Bewegung setzten. Wie Cale erhofft hatte, zogen sie um die Rückseite des Golan herum und rückten direkt auf Chartres zu, um die Stadt einzunehmen. Schließlich hatten sie bei ihrem Sieg auf dem Machair doch einige ihrer so kostbaren Soldaten verloren, und diese Toten mussten nun gegen ihre Gier auf das Silber der Antagonisten aufgerechnet werden. Nahmen sie durch den Handel mit ihrer militärischen Macht weniger Geld ein, so gab es dafür

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