Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Solomon in der Roten Oper so völlig hatte erstarren lassen. Dieses Mal schienen seine Knie unter dem Entsetzen zu leiden. Sie zitterten tatsächlich heftig. In der Oper war es eine entsetzliche Lähmung in seiner Brust gewesen.
Cale hatte angeordnet, einen Turm hinter der letzten Linie seiner Männer zu bauen, sodass er den Fortgang der Schlacht besser verfolgen konnte, aber nun fürchtete er, dass er nicht in der Lage sein würde, die schmale Leiter hinaufzusteigen. Wie mit stummem Vorwurf schaute er auf seine Knie hinab. Hört auf zu zittern. Hört sofort auf. Und schon rückten die Lakonier in ihren lockeren Vierecken vor. Einen Augenblick lang kam ihm alles so hoffnungslos vor; seine Soldaten waren zu schwach, seine Vorstellungen von Angriff oder Verteidigung lachhaft, wenn man bedachte, dass eine gewaltige Tötungsmaschine langsam auf ihn zurückte. Und schon hatte er einen Fuß auf der Leiter, dann den anderen, langsam, eine Pause, wieder eine Sprosse höher. Er wünschte sich weit weg, oder dass ihn jemand aus dieser Lage rettete und ihn an einen sicheren Ort bringen würde. Eine weitere Sprosse, und noch eine. Und dann, wie ein frischgeschlüpfter Meeresvogel, der nach einem allzu ehrgeizigen Schwimmausflug im Wasser an Land kriecht, schob er sich über den Rand der Plattform, wo ihm zwei bereits dort stationierte Wärter auf die Füße halfen. Sie hatten die Aufgabe, ihn hier oben mit überdimensionalen Schilden vor Pfeilen, Bolzen und Speeren zu schützen. Als er jetzt auf das lakonische Heer blickte, beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass alles gut gehen würde, solange nichts schieflief, etwa eine vorzeitige Explosion des Bübischen Salpeter.
Was dieser prompt auch tat. Denn es begann zu regnen. Bübischer Salpeter, sollte ihm Hooke später erklären, mochte kein Wasser– oder besser gesagt, mochte Wasser zu sehr. Er absorbierte die leichteste Feuchtigkeit wie der Wüstensand den Regen. Innerhalb von zwei Minuten, nachdem die Wolken geborsten waren, war der Bübische Salpeter bereits so entzündlich wie ein Sumpf. Weil er diese Schwäche kannte, hatte es Hooke peinlichst vermieden, seine Erfindung vorzuführen, wenn feuchtes Wetter herrschte, nicht nur, weil er diese Überreaktion verheimlichen wollte, sondern auch, weil sie schlicht nicht funktioniert hätte. Seine einzige Kriegserfahrung beschränkte sich auf den Veldt, in einer völlig trockenen Jahreszeit. Im Rückblick lag zwar nahe, dass er diese Eigenschaft hätte erwähnen müssen, aber der Gedanke kam ihm einfach nicht, zumindest nicht, bis es jetzt zu regnen anfing: Das Leben eines experimentellen Forschers beruhte nun einmal darauf, für sein Experiment die denkbar günstigsten Bedingungen zu schaffen.
Cale, noch in Unkenntnis seiner feuchten Nemesis, beobachtete den Vormarsch der Lakonier von seinem Turm aus, beschützt von den beiden Purgatoren mit ihren Schilden, und wartete in höchster Anspannung darauf, das Zeichen zu geben, um die in Öl getränkten Zündschnüre zu entzünden. Es war ein ekstatisches, schmerzhaftes Warten, doch endlich gab er das Signal, und die Trompeten begannen so heiser wie Krähen zu schmettern. Beim ersten Ton zogen sich die Erlöser an der Front hinter die Palisaden aus Eibenholz zurück, die man in den Boden getrieben hatte, dann schlugen Zweierteams noch die restlichen Palisaden in die Erde, um den Durchgang zu schließen. Damit entstand zwar kein Zaun, wohl aber ein Hindernis, durch das ein Mann nicht schlüpfen konnte, schon deshalb nicht, weil an den Palisadenstangen in Abständen von einer Hand breit scharfe Metallhaken befestigt waren. Um alle Lunten gleichzeitig entzünden lassen zu können, hatte Cale in den beiden zurückliegenden Wochen zwei Zweierteams zwölf Stunden täglich den Schnelllauf trainieren lassen, damit sie die zweite Reihe schützender und hakenverstärkter Palisaden erreichen konnten, die auf halbem Weg zwischen den Anzündpunkten und den Sprengstoffbehältern in den Boden gerammt worden waren.
Mittlerweile geriet Cales Schlachtplan auch weiter oben am Golan aus den Fugen. Obwohl der Regen bereits nachließ, hatte der kurze Niederschlag ausgereicht, um nicht nur den Bübischen Salpeter gründlich zu verwässern, sondern auch die Seile der Mörser zu befeuchten. Dadurch verringerte sich die Kraft, mit der sie die ungewöhnlich schweren Bolzen schleudern konnten. Hooke hatte sie zwar schnell abdecken lassen, aber die Mörser standen ohnehin am äußersten Rand ihrer Reichweite,
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