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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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lassen, damit auch sie für den Sieg beten konnten. Die Maurer, die in stundenlanger Arbeit die Steine auf das Gerüst geschafft hatten, sahen sich einem Problem gegenüber: Entweder eine weitere Stunde damit zu verbringen, sie wieder auf den Boden zurückzuschaffen, oder den Gebetsaufruf zu ignorieren oder ein geringes Risiko in Kauf zu nehmen und die Steine auf den Gerüsten liegen zu lassen. Und natürlich hatten sie Recht– die Steine lagen sicher auf den Gerüsten, und das Gerüst selbst würde halten. Warum sollten sie damit rechnen müssen, dass ein gewisser Jonathon Brigade mit keineswegs guten Absichten zufällig vorbeikommen würde? Wie hätten sie erraten sollen, dass diese Fleisch gewordene Präsenz des Bösen genau wusste, wie man die Stützbalken schwächen konnte, welche das Gerüst sicherten, an welcher Stelle man ein Seil anzubringen hatte, an dem man nur zu ziehen brauchte, wenn Gant und fünf seiner heiligen Brüder unter dem Gerüst vorbeigingen, wie es unvermeidlich war, wenn sie in die Kapelle gelangen wollten, und dass ein heftiger Ruck an dem Seil dazu führen würde, dass mehr als eine Tonne Ziegelsteine auf ihre Köpfe krachen würde? Es war einfach, und die Stelle lag nicht allzu weit von einer Außenmauer entfernt, wo die Küchenanbauten Brigade leicht die Flucht ermöglichen würden. Perfekt geplant, nur kamen dann die Bauarbeiter wieder zurück, deren Vorarbeiter bemerkt hatte, dass sie die Baustelle verlassen hatten, und nun von ihnen verlangte, die Steine vom Gerüst zu schaffen. Brigade, der vom Temperament her dazu neigte, aus jeder Situation das Beste zu machen, sah darin ein Zeichen, dass ihm der Himmel eine andere Vorgehensweise nahelege, und machte sich prompt davon, um herauszufinden, was genau der Himmel meinte.
    Gil seinerseits hatte bei seiner Planung für den Mord an Parsi auch an möglicherweise eintretende Zufälle gedacht. Für Parsi war es im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden, sich nirgends blicken zu lassen. Was früher nur ein gewisses Unbehagen bei Aufenthalten auf großen Plätzen gewesen war, hatte sich zu einer ausgesprochenen Platzangst entwickelt. Selbst seine Audienzen im Palast des Papstes fanden in einem Tunnel unter der Erde statt. Ins Tageslicht tauchte er nur jeden Morgen für zwanzig Minuten auf, um im Kreuzgang des Klosters umherzugehen, der nur an einer Seite offen war, und dabei in seinem Brevier zu lesen. Es gab nur spärliche Informationen über sein Kommen und Gehen. Aber Gil hatte eine beiläufige Bemerkung über Parsis tägliches Ritual aufgeschnappt und es nach längerem Warten selbst überprüft, indem er auf den Carfax-Turm gestiegen war, um ihn von dort oben zu beobachten. Der Zeitablauf von Parsis täglicher Gebetsrunde im Kreuzgang blieb immer gleich, sogar das Schritttempo änderte sich nie, wenn er seine Runden zog. Nur ein Teil des geweihten Gartens lag innerhalb der Klostermauern; unglücklicherweise für Gil lag der einzige Teil, den er von seinem hohen Ausguck auf dem Carfax-Turm überblicken konnte, auf der Seite, die von einem breiten Dach überdeckt war, sodass Parsi stets im tiefen Schatten bleiben konnte, wodurch er aber vom Turm aus unsichtbar blieb, mit Ausnahme des untersten Teils seiner von der Kutte bedeckten Extremitäten. Mit anderen Worten: Es war unmöglich, vom Turm aus einen tödlichen Schuss abzugeben. Aber Parsi ging mit konstanter Geschwindigkeit, ein monotoner, rhythmisch rollender Gang, und Gil wusste, dass er am anderen Ende des Gartens für ungefähr zwanzig Sekunden durch das helle Licht gehen musste– allerdings an einer Stelle, die vom Turm aus nicht zu sehen war. Gil war auch nicht in sein Adlernest gestiegen, um selbst einen Schuss abzugeben, sondern um Parsis Schritttempo zu messen und zu berechnen, wann Parsi zwar unter freien Himmel, wenn auch außer Sichtweite, kommen würde. Dann wollte er einem Trupp von vierzig Bogenschützen ein Zeichen geben, die er in einem Hof ungefähr dreihundert Schritt entfernt positioniert hatte. Auf das Zeichen hin würden sie ihre Pfeile über die Mauer ihres Hofs abschießen. Die Pfeile würden zwei Straßen überfliegen und am Ende des Klosterkreuzgangs an der Stelle niedergehen, an der Parsi, um Strafe für seine Sünden betend, ins Offene treten würde– ein Ersuchen, das ihm Gil nur zu gern und mit enormer Befriedigung gewähren würde.
    Wie sich herausstellen sollte, gab es für das, was dann geschah, einen Zeugen, den Gil persönlich vor der Hinrichtung

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