Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
ebenso wie alle anderen, während ein weiteres halbes Dutzend inzwischen beschwipster Materazzi zustimmend auf den Tisch klopften.
»Wenn es um Selbsttäuschung geht, muss ich meinem Bruder vollkommen zustimmen. Man kann sich mit Vipond eintausend Jahre lang unterhalten und würde doch nicht alle Absurditäten erfahren haben, an die er glaubt.«
Daraufhin fiel Viponds Gesicht in sich zusammen, und einen kurzen Augenblick lang fragte sich IdrisPukke, ob er nicht zu weit gegangen sei. Aber das plötzliche Erschrecken des Kanzlers hatte eine andere Ursache, die IdrisPukke weder bemerkt noch gehört hatte. Während das Stimmengewirr und Gelächter im ganzen Saal ungebrochen weitergingen, wurde es am Tisch der Halbbrüder plötzlich totenstill.
Oben an der Treppe, die in den Saal herabführte, stand Cale, vom Hals bis zu den Füßen ganz in einen schwarzen Anzug gekleidet, der einem ungewöhnlich eleganten Mönchshabit glich oder doch wohl eher dem Stil der reichen jungen Männer von Spanish Leeds. Cale hatte sich den Anzug eigens für diesen Abend von seiner Schneiderin nähen lassen und auch diese Ausgabe mit dem Geld bezahlt, das er von Kitty dem Hasen erhalten hatte.
Er sah wie ein schwarzer Eisennagel aus, und es war ihm gleichgültig, ob das jemandem auffiel. Es dürfte niemanden überraschen, dass unter den wenigen Personen, die Cale schon einmal persönlich begegnet waren, eine Person bei seinem Anblick besonders entsetzt war: Arbell Materazzi, die neben ihrem Gatten saß und im achten Monat schwanger war. Wenn eine Frau gleichzeitig so weiß wie ein Gespenst werden und dennoch gleichzeitig aufblühen konnte, so war sie es, und die feinen blauen Venen auf ihren Augenlidern wirkten wie die zartesten Maserungen des Marmors.
IdrisPukke, dem in diesem Moment jeder Humor abhandengekommen war, ließ Cale nicht aus den Augen, als dieser langsam die Treppe herabstieg und durch den Mittelgang auf den Tisch der Materazzi zukam, so ernst und grausam wie die Böse Fee im Märchen, die schwarz geränderten Augen, die so prächtig zu seinem Anzug passten, fest auf das schöne Mädchen gerichtet. Hätte ich mir doch denken können, dachte IdrisPukke , aber wirklich. Der Stuhl neben ihm, der für den Nichtgast Cale freigehalten worden war, wurde von einem Diener zurückgezogen. Cale, vollkommen zufrieden mit der Katastrophe, die sein Erscheinen auslöste, trat heran, nickte Vipond kurz und knapp zu und fixierte dann seinen mörderischen Blick auf Arbell Schwanenhals. Es gibt kein hinreichend starkes Wort, das den Ausdruck auf Cales Gesicht auch nur annähernd hätte beschreiben können, aber niemand hatte sonderlich große Schwierigkeiten, sich vorzustellen, was in seiner Seele vor sich ging. Die Frage, ob er es selbst wusste, ging IdrisPukke später oft durch den Sinn. Schwer zu glauben, dass der Abend gut geendet hätte, wenn Cale es gewusst hätte. Bose Ikard jedenfalls dürfte wohl auf irgendwelche Probleme geradezu gehofft haben, nach allem, was ihm über Conn und Thomas Cale bekannt gewesen sein musste. Aber jetzt stolperte er geradezu in etwas viel Schlimmeres hinein als nur einen prächtigen Streit zwischen zwei eingebildeten Jungen.
Es gibt viele Beschreibungen für die verschiedenen Arten des Schweigens, das sich zwischen Menschen ausbreiten kann, die sich hassen. IdrisPukke dachte, dass er, würde er irgendwann wieder in einem Gefängnis landen und für ein oder zwei Jahre eingebuchtet bleiben, möglicherweise eine brauchbare Liste dieser Schweigensarten erstellen könnte. Aber welcher Art das Schweigen auch sein mochte, es wurde jedenfalls von einem von Viponds Gästen gebrochen, einem gewissen Señor Eddie Gray, der wohl so etwas wie der norwegische Botschafter war und den Auftrag hatte herauszufinden, was die Materazzi als Nächstes zu tun planten, wenn sie überhaupt etwas planten, und wie Norwegen davon betroffen sein würde. Gray, ein angeberischer und reichlich oberflächlicher Mensch, betrachtete Cale mit viel Getue von oben bis unten.
»Für einen Todesengel habt Ihr die richtige Farbe, Meister Cale. Allerdings seid Ihr vielleicht ein bisschen klein geraten.«
Am Tisch schienen alle den Atem anzuhalten. Und Cale wandte ohne Zögern zum ersten Mal den Blick von Arbell ab und sah Gray an.
»Das mag wohl so sein. Aber wenn ich Euch den Kopf abschlüge und mich darauf stellte, wäre ich wohl größer.«
Das Schweigen der Anwesenden, denen spätestens jetzt klar wurde, dass etwas in der Luft lag, breitete
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