Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Stück von einer Stelle, die man nicht sieht. Dann ist es aus demselben Stoff und geht auch nicht ein, wenn es feucht wird.«
»Willst du damit sagen, wir sollten ihm irgendwo ein Stück abschneiden und damit das Loch im Gesicht stopfen?«
Sie hatte nur laut gedacht, aber jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun.
»Nein, nein, das wollte ich nicht sagen, ich habe nur überlegt. Gleiches mit Gleichem, sagen wir immer. Wirklich, ich denke nur nach.«
»Aber warum nicht? Das ergibt doch einen Sinn.«
»Damit macht Ihr nur alles noch schlimmer.«
»Man kann immer alles noch schlimmer machen.«
»Ich dachte, er ist Euer Freund? Vielleicht schneidet Ihr einfach einen Eurer eigenen Finger ab?«
»Red kein dummes Zeug«, sagte Cale milde.
»Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seinen Freund.«
»Welcher Idiot hat dir das erzählt?«
Die Beleidigung machte ihr zu schaffen, aber sie hatte nun einmal das Geld zu sehen bekommen und empfand die Sache auch als berufliche Herausforderung. Sie gehörte nicht zu den Leuten, die einer Aufgabe aus dem Weg gingen.
Und so begann die aus Glück, Gewitztheit, Geschick und Unwissen geborene Spontanoperation– und erwies sich als durchschlagender Erfolg. Cale, der der Näherin versicherte, dass er gut mit Messern umzugehen wisse, schnitt eine hübsche kleine Scheibe Fleisch aus Henris Hinterbacke, an einer Stelle, von der Cale glaubte, dass Henri dort den Verlust am ehesten verschmerzen könne. Die Näherin füllte damit das tiefe Loch in Henris Gesicht. Mit einer Geschicklichkeit, die Cale schon beim bloßen Zusehen das Herz erwärmte, schnitt und nähte sie so perfekt wie der Schneider von Gloucester an Henris arg geschundenem Gesicht herum. Währenddessen unterhielt Vague Henri die Näherin mit weiteren Liedern, die mal von Spinnen und alten Weibern, dann wieder von Katzen und Geißböcken handelten. Als sie damit fertig war, traten Cale und die Näherin einen Schritt zurück und bewunderten ihr Werk, und es hatte Bewunderung verdient. So wund und rau es noch sein mochte, konnte man doch schon klar erkennen, dass das ausgefranste Loch in etwas verwandelt worden war, das einfach perfekt aussah. Cale wusste, dass sich die Wunde noch entzünden konnte oder dass das Stück Fleisch, das sie eingefügt hatten, absterben und eitern konnte, und was dann geschehen würde, mochte der Himmel wissen. Aber für den Augenblick sah es wirklich gut aus.
Und es blieb gut. Zwei Tage lang blieb die Wunde zwar rot und wirkte stark entzündet, aber am dritten Morgen hatte sie eine rosa Färbung angenommen; die Schwellung war abgeklungen, und die Wunde begann offenbar zu verheilen. Vague Henri hatte nur eine Beschwerde: »Warum ist mein Arsch so wund?«
Doch weder die Näherin noch Cale dachten kaum jemals wieder daran, dass sie durch großartige Zusammenarbeit und viel Glück eine wahrhaft geniale Operation durchgeführt hatten, und so ging dieses kostbare Wissen der Menschheit wieder für lange Zeit verloren.
DREISSIGSTES KAPITEL
A
m Abend des großen Banketts liefen IdrisPukke und seinHalbbruder Vipond zur Höchstform auf. IdrisPukke umschmeichelte die Frauen mit Bemerkungen über ihre Schönheit und lieferte sich lustige Streitgespräche mit ihren Männern, die seiner Meinung nach ihren schönen Frauen in keiner Weise gerecht würden, während Vipond, dessen Humor von eher zurückhaltender Art war, wenn ihm überhaupt der Sinn danach stand, an diesem Abend Lachstürme auslöste, als er auf seine trockene Art eine hochgradig amüsante Geschichte über Seine Eitelkeit, den Bischof von Colchester, von sich gab, in der es um ein missglücktes Abenteuer mit einer Aylesbury-Ente ging und die er mit der tiefsinnigen Bemerkung beendete: »Welche Entdeckungen auch im Land der Selbsttäuschung gemacht wurden, bleiben doch noch viele Regionen unerkundet.«
Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, glitt auch IdrisPukke daraufhin in eine aphoristische Stimmung und ließ seinen Tischnachbarn den Genuss seiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit menschlicher Dummheit, Absurdität und Boshaftigkeit zuteilwerden, darunter auch, worauf hinzuweisen ist, seine eigene.
»Man streite sich niemals mit irgendjemandem über irgendetwas. Nein, nicht einmal mit Vipond, obwohl er zweifellos der weiseste Mann ist, der jemals lebte.« Vipond, der ihm an der Tafel gegenübersaß und die Darbietungen seines Halbbruders sichtlich genoss, lachte über die doppelbödige Schmeichelei
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